Sergei Loznitsa wurde in Belarus geboren, wuchs in Kiew auf, studierte in Moskau und lebt seit einigen Jahren in Berlin. Der 57-Jährige gilt als einer der bedeutendsten ukrainischen Dokumentarfilmer. In "Donbass" (2018) reflektierte er etwa bereits die drohende Kriegsgefahr für die Ukraine - im Nachhinein betrachtet ein geradezu prophetisches Kinodrama.
Seit Ausbruch von Putins Angriffskrieg ist Loznitsa in eine veritable Auseinandersetzung mit russischen Künstlerinnen und Künstlern verwickelt: Ende Februar trat er aus der Europäischen Filmakademie aus, weil ihm deren offizielle Reaktionen auf Putins Invasion nicht genügten. Im Gegenzug kritisierte Loznitsa den von der ukrainischen Filmakademie eingeforderten Generalboykott russischer Filme beim anstehenden Europäischen Filmpreis, worauf wiederum Loznitsa aus der Filmakademie ausgeschlossen wurde.

Mit der "Wiener Zeitung" sprach er über die Rolle von Kunst und Kultur in Zeiten des Krieges - und zeichnet ein schwarzdüsteres Bild von der Bedrohung, die von Russland ausgeht.
"Wiener Zeitung": Der Umgang mit russischen Künstlerinnen und Künstlern gleicht gegenwärtig einem Minenfeld. Bleibt in Zeiten des Krieges für differenziertes Denken überhaupt kein Platz mehr?
Sergei Loznitsa: Folgt man der Argumentation der ukrainischen Filmakademie, haben Kunstschaffende in diesen Tagen tatsächlich jegliches Recht auf eine eigene Meinung verwirkt. Ich sehe das freilich anders: Gegenwärtig geht es doch darum, Unabhängigkeit in jeglicher Hinsicht zu bewahren! Es schockiert mich geradezu, dass die Kunst offenbar zu einem weiteren Schlachtfeld wird. Dabei vermögen gerade Kunst und Kultur uns in schweren Zeiten zu retten, uns davor zu bewahren, völlig im Albtraum der Realität zu versinken - stattdessen wird die Kunst selbst torpediert. Wie man mit Künstlerinnen und Künstlern umgeht, sagt viel über den Zustand einer Gesellschaft aus. Erinnern wir uns nur daran, wie Diktaturen zuerst Kunstwerke verbieten, um bald darauf Kunstschaffende zu verfolgen und zu vertreiben.
Sie sind mit den Zuständen in Belarus, der Ukraine und Russland vertraut: Wie stehen diese drei Nationen zueinander?
Es sind Weltregionen, die in den vergangenen 2.000 Jahren ständig ihre geografischen Grenzen veränderten. In manchen Lehrvideos sieht es ganz danach aus, als folgte dieses Ausdehnen und Schrumpfen dem Pulsschlag eines Herzens. Der Wandel definierte über Jahrhunderte hinweg die Schicksale der Menschen. Um nur ein Beispiel aus der Geschichte zu nennen: Der ruthenische Feldherr und Magnat Konstanty Ostrogski (1460-1530) bekämpfte zeitlebens Tataren und Russen und war nacheinander Großhetman von Litauen, also Oberbefehlshaber des Landes, anschließend Marschall von Wolhynien, schließlich Kastellan von Wilna und zu guter Letzt als Woiwode Heerführer von Troki - heute kann so gut wie niemand mehr etwas mit diesen antiquierten Begriffen einst heftig umkämpfter Gebiete anfangen. Vor etwas mehr als 100 Jahren gehörten Teile der heutigen Ukraine noch zum Habsburgerreich, ich selbst wurde in der Sowjetunion geboren - alles untergegangene Weltmächte. Neulich habe ich einen DNA-Test machen lassen, mit dem Ergebnis, dass Schweden, Norweger und Dänen zu meinen Vorfahren zählten, die seinerzeit als Wikinger in das Land gekommen waren. Der Blick auf die Geschichte lehrt uns, wie sehr Regionen miteinander verflochten sind und wie schnell Großreiche untergehen.
Der Begriff "Nation" als Fiktion?
Im philosophischen Sinne ja, aber in der Politik sollte man bei den Fakten bleiben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Grenzen der Nationen vertraglich festgelegt, und es versteht sich von selbst, dass diese zu respektieren sind. Putins Angriffskrieg ist absolut inakzeptabel.
Wie sollte sich der Westen Ihrer Ansicht nach verhalten?
Dieser Krieg wird nicht nur gegen die Ukraine geführt, vielmehr gilt die Kriegserklärung ganz Europa, sie trifft die liberalen westlichen Demokratien in ihrem Wesen. In der Ukraine findet ein ideologisch motivierter Krieg statt. Für Putins Russland, das ein despotischer Staat ist, aufgebaut auf Tyrannei, stellen die westlichen Demokratien eine Bedrohung dar.
Sie entwerfen hier ein ziemlich drastisches Szenario.
Europa wird sich verteidigen müssen. Je eher sich die Politik und die Länder des Westens darauf vorbereiten, desto besser. Die Verteidigung europäischer Werte muss nicht unbedingt nur mit Waffen ausgetragen werden, es kann auch auf intellektueller Ebene geschehen. Im Grunde hätte man seit langem eine Art Thinktank ins Leben rufen sollen, dabei die hellsten Köpfe vereinen und versuchen, die russische Zivilbevölkerung und die dortige Opposition nach Kräften zu stärken und zu unterstützen. Gerade in der jüngeren Geschichte gibt es viele Beispiele für einen gewaltfreien Regierungssturz. Warum sollte das in Russland nicht auch möglich sein?
Tatsächlich passiert seit Kriegsbeginn das Gegenteil: Russland wurde mit massiven Wirtschaftssanktionen belegt, viele russische Kunstschaffende werden boykottiert. Was sollte der Westen besser machen?
Derzeit sehen wir westliche Politikerinnen und Politiker vor allem nur reden, jetzt müssten endlich Taten folgen. Wenn schon eine Flugverbotszone für die gesamte Ukraine nicht möglich ist, dann sollten wenigstens Teile im Westen des Landes, in denen sich viele Flüchtlinge aufhalten, geschützt werden. Aber nicht einmal das scheint möglich zu sein.
Die Nato hat diese Bitte zurückgewiesen, weil sie befürchtet, mit einer Flugverbotszone einen Dritten Weltkrieg auszulösen. Die Ukraine bekommt Waffen, um sich selbst verteidigen zu können, und Russland wurde mit Sanktionen belegt.
Das wird wohl nicht genügen. Jedenfalls wird es eine Weile dauern, bis die Sanktionen die russische Wirtschaft nachhaltig treffen. Bis dahin kann Russland mit der Zerstörung der Ukraine fortfahren. Was wir brauchen, sind Sofortmaßnahmen, um die Zerstörung aufzuhalten.
Sie fordern ernsthaft, dass die Nato ins Kriegsgeschehen eingreift?
Ich bin kein Militärstratege. Das ist nur meine persönliche Meinung, aber derzeit sehe ich leider keine andere Möglichkeit.
Wie könnte der Krieg denn enden?
Dieser Krieg kann nur mit der Kapitulation der Russischen Föderation beendet werden, mit einem Kollaps des herrschenden Regimes, einem Regierungswechsel in Moskau. Putin ist zu weit gegangen. Er hat sein Land in eine Pattsituation manövriert, die sich mit Nordkorea vergleichen lässt. Friedensgespräche erscheinen vor diesem Hintergrund nicht sehr wahrscheinlich. Selbst wenn eine Art von Frieden ausverhandelt werden wird, stellt Putins Russland weiterhin eine enorme Bedrohung für den Rest der Welt dar. Nachhaltig und endgültig kann dieser Konflikt allein durch einen Regimewechsel in Russland beigelegt werden.