Lange hat Olaf Scholz die Entscheidung hinausgezögert, ob Deutschland schwere Waffen an die Ukraine liefert. Der Kanzler wollte zeigen, dass er wohlüberlegt handelt und Grundsätzliches nicht übers Knie bricht. Als überlegt - und seinen Kontrahenten überlegen - wurde Scholz den Bürgern im Bundestagswahlkampf 2021 verkauft. Dazu gehörte auch der Scholz-Sager: "Wer Führung bestellt, bekommt sie bei mir." Dieser kollidiert nun mit dem eigenen Anspruch, in Kriegszeiten gilt das erst recht. Der Kanzler vermag seit Wochen nicht, die Debatte ob seiner Passivität einzufangen. Erst befeuerten Vertreter der Koalitionspartner Grüne und FDP öffentlich die Diskussion. Immer häufiger wird die Debatte auch außerhalb der Bundesrepublik aufgegriffen.
Am Dienstag schickte Scholz seine Verteidigungsministerin und Parteikollegin Christine Lambrecht zur Kurskorrektur vor, nachdem sich die Ampelparteien tags zuvor auf einen Kompromiss geeinigt hatten. Deutschland werde Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard an die Ukraine liefern, verkündete Lambrecht. Darüber abgestimmt wird wohl am Donnerstag im Bundestag.
Bei den kolportierten 50 Stück handelt sich aber nicht um Bestände aus der Bundeswehr, sie stammen direkt vom Waffenproduzenten Krauss-Maffei Wegmann. Dadurch können Lambrecht und Scholz ihre Argumentation aufrechterhalten, dass die schwächelnde Bundeswehr leider keine Panzer oder andere schwere Waffen für die Ukraine zur Verfügung habe - was die konservativen Oppositionsparteien CDU und CSU bezweifeln. Derartige Debatten gibt es auch andernorts, in den Niederlanden kritisiert der Vorsitzende der Offiziersvereinigung die geplante Lieferung von Panzerhaubitzen an die Ukraine.
Ukrainische Bitten seit Wochen
An der deutschen Diskussion sticht heraus, wie sehr Regierungsvertreter ihre verbale Solidarität mit der Ukraine bekunden, die dann auf die harte Realität der Taten trifft. "Wir wissen alle, dass in diesem Konflikt Artillerie ein wesentlicher Faktor ist", sagte Verteidigungsministerin Lambrecht. Das macht die Zögerlichkeit bei den Lieferungen umso schwerer erklärbar, und zwar auch gegenüber den Nato-Partnern an der Grenze zu Russland, in Polen und im Baltikum.
Spätestens Ende März, seit dem Rückzug der russischen Truppen aus der Gegend um die ukrainische Hauptstadt Kiew, waren sich Beobachter einig, dass Russlands Machthaber Wladimir Putin die vollständige Eroberung der Ostukraine als Minimalziel ausgibt. In dem großflächigen, offenen Gelände benötigen die Ukrainer unter anderem Panzer, um Gebiete nicht nur zu halten, sondern auch zurückzuerobern. Das ist auch das Ziel von Scholz. Er hält Frieden nur bei einem Rückzug der russischen Truppen für möglich. "Einen Diktatfrieden, wie er Putin lange vorgeschwebt hat, wird es nicht geben", machte der Kanzler vergangene Woche gegenüber dem "Spiegel" deutlich. Was die Ukraine dafür benötigt, fasste Außenminister Dmytro Kuleba aber bereits Anfang April zusammen: "Waffen, Waffen, Waffen."
Zu viel verlangt in deutscher Zeitenwende?
Womöglich sind schnellere Maßnahmen zu hoch gegriffen, Deutschland erlebt eine sicherheitspolitische Zeitenwende. Die staatstragenden Parteien links und rechts der Mitte müssen sich eingestehen, das Politkonzept vom Wandel durch Handel gegenüber autoritären Staaten vom Schlage Russlands ist gescheitert. Die Grünen als Kind der Friedensbewegung treten am vehementesten für Waffenlieferungen an die Ukraine ein, und ausgerechnet eine Mitte-links geführte Bundesregierung stellt 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr bereit.
Weitere Waffenexporte könnten sehr bald folgen. Rheinmetall reichte bereits Anträge beim Wirtschaftsministerium in Berlin ein, will 88 gebrauchte Leopard-Kampfpanzer und 100 Marder-Schützenpanzer an die Ukraine liefern. Und von jenen Panzerhaubitzen, welche manch niederländischer Militär nicht entbehren möchte, will Krauss-Maffei Wegmann 100 Stück in den Osten liefern.
Nicht nur Deutschland steht in der Pflicht, wenn die Ukraine nicht zu einem Rumpfstaat verkommen soll. "Wir können mehr tun, um der Ukraine zu helfen, sich selbst zu verteidigen", sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland. Vertreter von 40 Nation besprachen dort am Dienstag weitere Maßnahmen für die Ukraine.
Auch Ausbildungshilfe für die Ukraine steht nun auf dem deutschen Programm. Dabei hatten vor allem SPD-Politiker, darunter Parteichefin Saskia Esken, ins Treffen geführt, die ukrainischen Truppen seien ungeübt beim Umgang mit westlichen Waffensystemen und könnten diese nicht sofort einsetzen - im Gegensatz zu Gattungen aus früherer sowjetischer Erzeugung, die bei osteuropäischen Nato-Ländern noch gebräuchlich seien. Auch dieses Argument sticht nicht mehr.
Scholz Linie besteht neben der Nicht-Lieferung aus Bundeswehrbeständen noch aus zwei Positionen: Deutschland und die Nato dürfen nicht Kriegspartei werden und einen Atomkrieg gilt es zu vermeiden. Aber auch in diesen Fragen ist der Kanzler mit Kritik konfrontiert. Scholz sagt selbst, es stehe in keinem Lehrbuch, ab wann man von Russland als Kriegspartei wahrgenommen werden könnte. Doch als Tschechien ohne Umwege von Rüstungskonzernen Panzer an die Ukraine lieferte, wurde es nicht zum russischen Kriegziel erklärt. Der Kreml würde sich auch vor einem Angriff hüten, bedeutet doch eine Attacke auf ein Nato-Land einen Angriff auf das gesamte Verteidigungsbündnis.
Lieferungen völkerrechtlich gedeckt
Völkerrechtlich geht die überwältigende Mehrheit der Experten davon aus, dass Waffenlieferungen ein Land nicht zur Konfliktpartei machen. Wenn also Russland einen Grund für eine Aggression benötigt, wird es diesen unabhängig von den Fakten finden - wie beim angeblich drohenden Genozid russischsprachiger Bürger in der Ukraine.
Je weiter Deutschland militärisch geht, desto eher greift Moskau zur ultimativen Drohkulisse vor einem Atomkrieg. So geschehen am Dienstag, als Außenminister Sergej Lawrow das Schreckensszenario bediente. Im Osten der Nato gilt derartiges als Signal, dass Russland von militärischen Misserfolgen ablenken will. Ob er Putin den Einsatz von Nuklearwaffen zutraut, lässt Scholz offen.