Eine Schneise der Zerstörung: Hostomel. Butscha. Irpin. Borodjanka. Vablya. Andriiwka. Makariw. Kaum ein Haus, das nicht beschädigt oder völlig zerstört ist, die meisten Bewohner sind auch 65 Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine noch nicht zurückgekehrt.
Andriiwka ist ein kleines Dorf 50 Kilometer westlich von Kiew. An der Straße gibt es kaum ein Haus, das nicht Spuren der Zerstörung zeigt. Menschenleer ist es in Andriiwka, menschenleer bis auf Ljuba und Vanja. Die beiden sitzen auf einer Holzbank neben der Straße, Ljuba sieht aus, wie man sich eine ukrainische Babuschka vorstellt: graue Haare, dunkler Pullover, buntes Kopftuch. Neben Vanja liegt ein Stock, seit seinem Schlaganfall braucht er ihn, um zu gehen. Vanja ist ein gebrochener Mann, das Haus hinter dem blaugrünen Gartenzaun Vulytsya Melya Nummer 36, von dem nur mehr eine Ruine geblieben ist, ist sein Elternhaus, hier ist Vanja geboren und in dieses Haus ist Ljuba nach ihrer Hochzeit mit 18 Jahren gezogen.

Ganze Stadtviertel von Borodjanka sind komplett zerstört.
- © Thomas Seifert
Die meisten der mehrstöckigen Wohnblocks in den Kiewer Vororten sind völlig verwüstet.
- © Thomas SeifertDas Haus liegt in Trümmern, dort, wo einst das Wohnzimmer war, liegen noch Reste der Rakete, die alles zerstört hat. Der Sohn lebt in Kiew, die Tochter im nächsten Dorf. Freiwillige bringen ihnen Essen und das Allernotwendigste, die beiden können in einem notdürftig mit Planen abgedeckten Nebenhaus, das heil geblieben ist, leben. Dort kann man immerhin ein wenig heizen und die beiden haben ein Dach über dem Kopf.
Wie war es zu der Zeit, als russische Truppen in Andriiwka waren? "Die Russen, die hier waren, haben um Zigaretten gefragt, um Essen, um Marmelade. Dort, wo niemand zuhause war, sind sie auch eingebrochen und haben Essen gestohlen", sagt Ljuba. "Tag und Nacht wurde geschossen", berichtet sie. Sie hatte ein, zwei Mal Gelegenheit, mit russischen Soldaten zu sprechen. "Sagt einer zu mir: Wir sind gekommen, um euch zu retten. Sage ich: Vor wem willst du uns retten, Soldat? Sagt er: Vor den Nazis! Vor Bandera!" Als Ljuba von dem jungen Soldaten wissen will, ob er überhaupt weiß, wer Bandera ist, erntet sie Schweigen. "Ich habe es ihm dann gesagt. Dass Bandera längst tot ist, dass es keinen Bandera gibt in der Ukraine und hier schon gar nicht." Stepan Andrijowytsch Bandera war ein ukrainischer Nationalist, der 1959 in München gestorben ist und der wegen seiner Kollaboration mit den Nazis höchst umstritten ist. Im russischen Narrativ der "Entnazifizierungsoperation" spielt Bandera eine wichtige Rolle.
Vanja wolle nicht weggehen, sagt Ljuba, "wir haben ja auch die Hühner hier und den Hund" - der liegt, wohl immer noch traumatisiert, in seiner Hundehütte. "Mein Sohn sagt, ihr könnt nicht hierbleiben, ihr müsst zu uns ziehen", erzählt Ljuba. Und er habe ja recht, es gibt in Andriiwka keinen Strom, kein Wasser. Wobei die Stromgesellschaft versprochen hat, dass es bald wieder Strom geben wird - tatsächlich: Neue Strommasten sind bereits gesetzt. Ljuba seufzt dazwischen immer wieder, sagt "Oh" und "Oh, Tak" - also "Oh, ja". Sie ist stolz auf ihren Garten mit all den bunten Blumen, die Tulpen blühen schon fast. Ljuba hat auch Zwiebel und Knoblauch gepflanzt. Der Marillenbaum steht in Vollblüte, ein seltsamer Kontrast: Frühlingserwachen inmitten der Zerstörung.
Nichts als Trümmer
15 Kilometer weiter nach Nordosten liegt Borodjanka: Eine Stadt, die vor dem Krieg rund 13.000 Einwohner hatte. Nun ist Borodjanka - rund 55 Kilometer nordwestlich von Kiew - ein weiterer Ort in der Ukraine, über den in den internationalen Medien berichtet wird. Sogar UN-Generalsekretär Antonio Guterres war am Donnerstag da und stand vor den Häuserruinen. "Ich stelle mir meine Familie in einem der Häuser vor, das jetzt zerstört und schwarz vor Ruß ist. Ich sehe meine Enkeltöchter, die in Panik weglaufen. Ein Teil der Familie - tot. Der Krieg ist eine Absurdität im 21. Jahrhundert. Der Krieg ist das Böse", sagte dort Guterres, beschützt von UN-Bodyguards und umringt von ukrainischen Soldaten.
Vitali, ein Bewohner der Siedlung "Krug" - deutsch: Kreis -, ist einer dieser Menschen aus Borodjanka, die der UN-Generalsekretär vor seinem geistigen Auge gehabt haben mag, als er zu den Journalisten sprach. Vitali steht sprichwörtlich vor den Trümmern seiner Existenz. In dem fünfstöckigen Wohnblock, in dem sich seine Wohnung befand, klafft eine Lücke, das Haus ist völlig ausgebrannt. Vitali zeigt zuerst in eine Ecke, dann in die andere: Hier war die Küche, hier das Bad, hier das Wohnzimmer und hier das Schlafzimmer. Der Grundriss seiner Wohnung ist nicht mehr zu erkennen, es gibt nicht einmal mehr Mauerreste, an denen sich ablesen ließe, wie der Raumschnitt seines Heims früher einmal gewesen sein könnte.

Habseligkeiten konnte Vitali keine mehr retten - bis auf eine Ikone, die einst an der Wand hing. Sonst ist nichts mehr da, das an sein Leben vor dem Krieg erinnern könnte. Er trägt eine schwarze Baseball-Mütze, Lederjacke, darunter eine Sportjacke und ein rotes T-Shirt mit dem Schriftzug "USA". "Hauptsache, man hat überlebt", sagt Vitali. Seine Familie konnte nach Kolomyja - eine Stadt in Galizien, in der Westukraine zwischen Iwano-Frankiwsk und Czernowitz - fliehen, seine Frau hat dort auch schon Arbeit in einem Wäschegeschäft gefunden, es gehe allen gut. "Slava Bogu!" - Gott sei Dank.
Wie war sein Leben, bevor der Krieg hierher nach Borodjanka kam? Gleich vor dem Haus hat Vitali ein kleines Straßencafé betrieben, sein ganzes Leben kreiste um die Häuserblocks rund um die Siedlung "Krug". In dem einen Wohnblock waren rund 100 Apartments, im zweiten vielleicht 70. Um die 500 Menschen hätten hier insgesamt gelebt, sagt Vitali. Die Wohnhausanlage stammt aus den 1970er Jahren. "Mein Vater hat hier Stein auf Stein gelegt und dann selbst eine Wohnung zugeteilt bekommen", erzählt er. Hier sei er mit seinem Bruder in den Kindergarten gegangen, wo seine Mutter als Köchin gearbeitet hat, später waren seine eigenen Kinder dort.
"Ich bin innerlich völlig leer"
"Hier in der Siedlung sagt sogar jede Katze zu mir Hallo. Sogar die kennen mich", scherzt Vitali. Und Vitali kannte fast alle Menschen, die hier wohnten. Als Café-Betreiber war er stets über den neuesten Tratsch informiert, kannte die jüngsten Gerüchte und wusste, wer mit wem. Ihm erzählten die Nachbarn vom letzten Urlaub oder von ihren Wehwehchen. Wer Auskünfte brauchte oder Rat benötigte, der fragte Vitali. Jetzt fragt sich Vitali: "Die Häuser kann man wieder aufbauen, aber unsere Nachbarschaftsgemeinschaft? Wer wird überhaupt zurückkommen?"
Vitali holt sein Smartphone hervor und zeigt ein Video. "Da sieht man, wie die Russen kamen", sagt er, während das Video läuft. Ein Kampfpanzer rasselt durchs Bild, Grad-Raketenwerfer, die auf Lkw montiert sind, eine Panzerhaubitze und Mannschafts-Lkw. Die Hauptstraße sei voll mit russischen Panzern gewesen. Die Russen hätten die Wohnblocks beschossen, sagt Vitali. Dann scrollt er durch seine Bilder, "hier", sagt Vitali, "auf dem Bild sieht man, dass meine Wohnung schon nicht mehr existiert." Tatsächlich: Im Wohnhaus klafft nun eine Lücke, der Rest des Wohnblocks steht im Vollbrand.
"Ich war die meiste Zeit im Keller in einem Haus nicht weit von hier versteckt", erzählt Vitali. Die russischen Soldaten hätten dann begonnen, Essen zu stehlen, ein Besitzer eines Lebensmittelladens habe daraufhin begonnen, die Lebensmittel, die er noch in seinem Geschäft hatte, mit den Nachbarn zu teilen.
Und jetzt? "Ich habe keine Pläne, niemand weiß, wie es weitergehen soll. Ich bin völlig ausgebrannt. Am Anfang war da Adrenalin, jetzt bin ich innerlich völlig leer", sagt Vitali. "Aber ich werde nie vergessen, was die Russen uns angetan haben. Und ich werde ihnen auch nie verzeihen."
Eine Familie holt inzwischen ein paar Habseligkeiten aus den oberen Stockwerken des Wohnhauses. Sie sind gerade erst zurückgekommen, hatten gehört, dass ihr Haus völlig zerstört ist. Aber immerhin: Ein paar Elektrogeräte und sogar einige Möbel haben überlebt.
Geht man durch das Treppenhaus hinauf, zeigt sich überall ein Bild der Zerstörung. Vorbei an einem völlig verschmorten Sicherungskasten, in der Küche einer Wohnung ein verbrannter Mikrowellenherd, das Gerippe eines Computers, eine angeschmolzene Waschmaschine. Zerbrochenes Geschirr liegt am Boden, die Wohnung ist völlig verrußt, eingedrückte Wände und Betondecken, die bereits ein wenig nachgegeben haben. Eine Wand des Gebäudes wurde durch den Druck einer Explosion nach außen gedrückt, durch den tiefen Riss dringt Licht ins Gebäude. In einer Wohnung weiter oben ist wie durch ein Wunder alles heil geblieben. Das Sofa im Wohnzimmer ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt, das Fernsehgerät - ein altes Röhrengerät steht im Kasten - und auch der Kühlschrank in der Küche sind heil geblieben.
"Alena, deine Mama sucht dich"
Im Hof der Siedlung steht ein Autowrack, darin ein leerer Käfig für einen Hamster. Hier sieht es aus, als hätte ein Set-Designer für einen postapokalyptischen Katastrophenfilm ganze Arbeit geleistet. Dann am schwarzen Brett des Gebäudes mit der Adresse Vulytsya Zentralna 353 die Zeugnisse der früheren Zeit, der Zeit vor dem Krieg: Ein Handwerker bietet unter der Nummer 095-2863676 seine Dienste an, Trinkwasser wird geliefert, wenn man 098-2283820 wählt, Pediküre & Maniküre wird angeboten, und jemand, der in der Nähe eine Wohnung sucht, hat einen Zettel hingehängt und bittet um einen Anruf, sollte jemand eine Wohnmöglichkeit kennen. Beim Hauseingang liegt ein blauer Regenschirm, ein Wahl-Werbegeschenk aus dem Jahr 2012 der Partiya Rehioniv, der prorussischen Partei von Wiktor Janukowitsch. Prorussisch ist heute hier wohl niemand mehr. Am Gartentor eines zerstörten Einfamilienhauses mit der Hausnummer 83 dann ein weiterer stummer Zeuge der Tragödie, die sich hier ereignet hat. Mit schwarzem Filzstift steht geschrieben: "Alena, Deine Mama sucht Dich. 068-6019179. 12.04.2022".
Im Kindergarten "Buratino" - Buratino ist das ukrainische Pendant zu Pinocchio - haben Freiwillige bereits den Schutt und die kaputten Möbel weggeräumt, zusammengekehrt und sauber gemacht. Kindergartenassistentin Larisa führt durchs Haus. Als geschossen wurde, hat sie sich mit ihrer Familie im Keller versteckt, am 3. März konnte sie in ein Haus außerhalb von Borodjanka flüchten. Ständig habe sie den Gefechtslärm gehört, "aber am schlimmsten waren die Flugzeuge", sagt Larisa. 25 Jahre habe sie in Borodjanka gelebt, nun hat sie Blumen im Garten ausgegraben, die sie vor dem Haus, in dem sie jetzt lebt, wieder einpflanzen will. Auf Social Media sucht sie nach den Eltern der Kinder, die im Kindergarten waren, um herauszufinden, ob es ihnen gut geht. "Das Leben muss weitergehen. Ich bete jeden Tag für Frieden und hoffe, dass wir mit Europas Hilfe hier wieder alles aufbauen können."
Beschossener Nationaldichter
Ein paar Straßen weiter der nächste völlig zerstörte Häuserblock: Alexandr und Viktoria sind ebenfalls zurückgekommen, um aus der Ruine ihrer Wohnung zu retten, was noch zu retten ist. Die Wohnung, in der sie 20 Jahre gelebt haben, ist völlig zerstört. Alexandr reicht Viktoria Hausrat und Habseligkeiten vom Balkon. Viktoria ist von Tscherkassy - rund 200 Kilometer den Dnepr flussabwärts von Kiew - nach Borodjanka gezogen. Hier hat sie ihre zwei Söhne großgezogen, gemeinsam haben sie, als die Söhne schon erwachsen waren, Urlaub in Tunesien gemacht, zweimal seien sie in Hurghada, Ägypten, gewesen - am Ende des Urlaubs habe sie sich dann aber wieder auf ihr Zuhause in Borodjanka gefreut. So war ihr Leben bis zum 28. Februar.

An diesem Tag musste sie aus Borodjanka flüchten. "Wir sind auf und davon, wir haben in einem Haus am Land mit 15 Leuten gelebt wie die Sardinen, praktisch im Wald, aber auch dort gab es Bomben, Granaten, Raketen. Bumm! Bumm! Bumm." Viktoria erzählt lebendig, sie lächelt dabei, obwohl sie eigentlich nichts zu lachen hat, man merkt ihr an, dass ihr Leben immer noch ein Leben im Ausnahmezustand ist. Während Viktoria erzählt, packt ihr Mann Alexandr eine Schachtel mit Küchenutensilien ins Auto. "Ich will nur, dass der Krieg endlich aufhört und nie wieder Krieg ist", sagt sie.
Nicht weit vom Wohnblock von Alexandr und Viktoria entfernt steht ein Denkmal von Taras Schewtschenko, dem Nationaldichter, der überall in der Ukraine verehrt wird. Sogar der Büste haben russische Soldaten einen Kopfschuss verpasst. Die Granitplatten sind herausgebrochen, es gibt Einschusslöcher und Schrapnellkratzer. Kerzen stehen um das Denkmal. Auf einer der Granitplatten stehen ein paar Zeilen eines Gedichts von Schewtschenko: "Liebe deine Ukraine, liebe sie. In grausamen Zeiten und in den letzten schwierigen Momenten." (Mitarbeit: Olya Danyukova)