Jeden Tag veröffentlicht die für ihre militärstrategischen Analysen bekannte US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) ihre Einschätzung zur Lage an der Front in der Ukraine. Detailliert werden hier Truppenbewegungen auf beiden Seiten aufgelistet, die aktuellen Kampfhandlungen werden analysiert, in einen größeren Zusammenhang gestellt und zumeist auch mit einer Zukunftsprognose versehen.

Am Sonntagabend Washingtoner Zeit und damit nur wenige Stunden vor dem Beginn von Wladimir Putins großer Rede bei der Siegesparade am Roten Platz veröffentlichte das ISW eine Lageeinschätzung, die wenig Zweifel daran lässt, dass Russland auch im Donbass und in der Gegend um Charkiw nicht vorankommt. Die russische Armee hätte auf keiner einzigen Bewegungsachse Fortschritte erzielen können, heißt es in dem Bericht, der auch für die nächsten Tage keine wesentliche Änderung der Lage erwartet. Denn statt die Kräfte im Donbass verstärken zu können, müssten die jenseits der russischen Grenze wartenden Reservetruppen nun in Richtung Charkiw geschickt werden, um den erfolgreichen ukrainischen Gegenangriffen etwas entgegensetzen zu können.

Dass es für Putin keinen großen Sieg zu verkünden gibt, hatte schon in den Tagen vor den Feierlichkeiten, mit denen Russland jedes Jahr am 9. Mai des Triumphs über Nazi-Deutschland gedenkt, für erhebliche Unruhe gesorgt. Vielfach wurde damit gerechnet, dass der russische Präsident auf der diesmal zahlenmäßig deutlich kleiner dimensionierten Militärparade die nächste Eskalationsstufe im Ukraine-Krieg zündet.

Zumindest rhetorisch holte Putin bei seine Rede auch weit gegen den Westen aus. Nach dem Defilee von tausenden Soldaten und mehr als hundert gepanzerten Fahrzeugen - der Flugteil der Parade mit dem Überflug von Kampfjets und des fliegenden Gefechtsstands vom Typ Il-80 musste wetterbedingt entfallen - rechtfertigte der 69-Jährige den Überfall auf die Ukraine damit, dass sich Russland gegen die Aggression des Westens und eine bevorstehende Invasion hätte wehren müssen. Die Nato habe über die Jahre eine für Russland "absolut nicht hinnehmbare Bedrohung" geschaffen, sagte Putin. Ein Angriff von ukrainischer Seite auf die prorussischen Separatistengebiete in den Regionen Luhansk und Donezk und die 2014 von Russland annektierte Krim habe unmittelbar bevorgestanden.

"Das war keine Kriegsrede"

Ähnliche Anschuldigungen hatte der russische Präsident allerdings auch schon in den vergangenen zwei Monaten immer wieder zur Verteidigung seines eindeutig völkerrechtswidrigen Überfalls auf die Ukraine ins Treffen geführt. Als bemerkenswerter als Putins ohne Belege und Beweise vorgetragene Rechtfertigungsrhetorik sehen daher zahlreiche westliche Experten jene Dinge an, die Putin entgegen vielen Erwartungen in seiner elfminütigen Rede nicht einmal mit einem Wort erwähnt hat. So nannte Putin die Ukraine nicht beim Namen und ging auch auf den Verlauf der Kämpfe nicht ein. Auch einen Hinweis auf das zukünftige russische Vorgehen gab es in Putins Ansprache am Roten Platz nicht.

Zuvor war vielfach spekuliert worden, der russische Präsident könnte bei der Parade zum 9. Mai eine Massenmobilmachung verkünden, um der stockenden Offensive im Donbass neues Momentum zu verleihen. "Eine Generalmobilmachung wurde von der Führung in Moskau aber offensichtlich als zu großes Risiko angesehen", sagt der in Wien lebende Russland-Experte Alexander Dubowy im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Dubowy zufolge hätte eine formelle Kriegserklärung an die Ukraine und eine Massenmobilmachung nämlich unweigerlich dazu geführt, dass der nur als "militärische Spezialoperation" bezeichnete Feldzug plötzlich zu einem Krieg wird, der nicht nur die Soldaten aus der armen und abgehängten Provinz betrifft, sondern auch die wohlhabenden und gebildeten Städter, die dann plötzlich ebenfalls eingezogen werden könnten. "Das wäre eine sehr unpopuläre Entscheidung gewesen", sagt Dubowy. "Und in den Großstädten ist die Bevölkerung politisch deutlich aktiver."

Dubowy wertet Putins Rede daher - sowohl was die Wirkung nach innen als auch nach außen betrifft - als eher defensiv. "Das war keine wirkliche Kriegsrede", sagt der Russland-Experte. "Putins Reden davor waren deutlich aggressiver und bedrohlicher." Aus Sicht Dubowys erkennt Putin mit dem Versprechen, die Kinder der Gefallenen finanziell zu unterstützen, zudem an, dass Russland in der Ukraine bereits signifikante Verluste erlitten hat.

Die Popularität nicht riskiert

Aus taktischer Sicht war die Ansprache des russischen Präsidenten laut Dubowy dennoch überlegt konzipiert. "Putin hat sich keinen Weg versperrt. Und er hat sich keine Ziele gesetzt, die er erreichen muss", sagt der Politikanalyst. Und falls in naher Zukunft noch einmal deutlich unpopulärere Maßnahmen getroffen werden müssten, verfüge Putin dank der derzeit hohen Zustimmungswerte und dem Verzicht auf neue Maßnahmen noch über einen genügend dicken Popularitätspolster.