Es ist kein Lied, das schmetternd gesungen wird. Die Melodie ist weich, fließend und etwas schwermütig. Auch dem Text, in dem von dunklen Wäldern und kristallnen Seen die Rede ist, fehlt, dem preußischen Klischee widersprechend, jeder Hau-Ruck-Moment: Das 1930 komponierte "Ostpreußenlied" hat sich zur Hymne eines Landes entwickelt, das es nicht mehr gibt. Zu einer Anrufung von etwas Verlorenem. Noch heute wird bei Treffen von deutschen Vertriebenenverbänden die wehmütige, sehnsuchtsvolle Melodie angestimmt, die die Schönheit der ostpreußischen Landschaft, die Vögel und weiten Felder lebendig werden lässt.

Und das, obwohl es Menschen, die die Flucht 1945 aus Ostpreußen und die Vertreibung der deutschen Restbevölkerung 1948 noch miterlebt haben, mittlerweile kaum noch gibt. Von den heute lebenden Deutschen wird fast niemand Ostpreußen noch seine Heimat nennen können. Die Gegend um die alte preußische Krönungsstadt Königsberg, in der der Philosoph Immanuel Kant gewirkt hat, wurde nach 1945 zwischen Polen und der damaligen Sowjetunion geteilt. Der Süden kam zu Polen, der Norden wurde mit Sowjetbürgern besiedelt, meist Russen.

Unter die deutsche Vergangenheit Ostpreußens setzten die Sowjets nach den Verbrechen, die die Deutschen auf sowjetischem Territorium verübt hatten, einen dicken Strich. Das alte Königsberg, von britischen Bomberverbänden und den Kämpfen 1945 zerstört, wurde knapp nach dem Krieg umbenannt: Nach Michail Iwanowitsch Kalinin, einem 1946 verstorbenen Politiker der Bolschewiki und Handlanger Stalins, der jahrzehntelang formal Staatsoberhaupt der Sowjetunion war - ohne über große Macht zu verfügen.

Stunde Null in Königsberg

Mit Königsberg hatte Kalinin nie etwas zu tun. Dennoch trägt die Stadt seit 1946 seinen Namen. Anders als im an Polen gefallenen Danzig, wo Teile der Altstadt nach dem Krieg wiedererrichtet wurden, setzte man in Kaliningrad auf einen radikalen Neubeginn, eine Stunde Null: Die Reste der Altstadt wurden eingeebnet, das einstige preußische Königsschloss 1969 gesprengt. Anstelle der ehemals dicht bebauten Altstadt, von deren pittoreskem Reiz heute neben wenigen Gebäuden nur noch Filme aus der Zwischenkriegszeit zeugen, wurden Aufmarschplätze und Parks errichtet und die typischen sowjetischen Plattenbauten hochgezogen. Dort, wo einst das Schloss stand, erhebt sich heute der Torso eines "Hauses der Räte", das wegen statischer Probleme unfertig blieb.

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Statt des historischen Königsbergs entstand eine typisch sowjetische Großstadt. Das nördliche Ostpreußen wurde als "Oblast Kaliningrad" der Russischen Föderativen Sowjetrepublik zugeschlagen - vor allem der eisfreie Hafen im ehemaligen Königsberg war für Stalin ein Grund für die Annexion. Das Gebiet wurde seit den 1950er Jahren als militärisches Sperrgebiet abgeschottet, war hochgerüstet und bis zum Ende der Sowjetunion für westliche Besucher nur sehr schwer zu erreichen. Dass das Gebiet Kaliningrad zur russischen Sowjetrepublik gehörte, war bis 1991 für Moskau kein Problem: Waren doch auch die umliegenden Republiken Weißrussland und Litauen Teil der Sowjetunion und das angrenzende Polen ebenfalls Teil der eigenen Machtsphäre.

Das änderte sich 1991 mit einem Schlag: Der Zerfall der Sowjetunion schuf eine völlig neue Lage. Das abgeschottete Kaliningrader Gebiet war plötzlich eine russische Exklave inmitten neuer, unabhängiger Staaten, die sich - mit Ausnahme Weißrusslands - anschickten, der russischen Einflusszone zu entfliehen. Viele Russen aus den umliegenden Staaten, etwa den baltischen, siedelten ins nahe Kaliningrad, wo sie keine Minderheit in einer eher feindseligen Umgebung waren, sondern im vertrauten Baltikum und doch unter Russen. Die Einwohnerzahl Kaliningrads stieg in den Neunziger Jahren.

Erinnerungsboom in den 90ern

Probleme mit dem Westen brachte die neue Lage vorerst keine. Im Gegenteil: Das einstige Sperrgebiet, dessen Rückgabe an Deutschland in der Spätphase der Sowjetunion ernsthaft erwogen wurde, öffnete sich Europa gegenüber. Hatte man zuvor die deutsche Geschichte der Stadt schamhaft verschwiegen und auf einige Eckdaten beschränkt, setzte in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren eine Art Boom ein, was die Erinnerung an das alte Königsberg betrifft. Zwar wurde die alte Stadt nicht als Ganzes wieder aufgebaut, obwohl es Pläne dafür gab. Dennoch wurden mit staatlicher Unterstützung einzelne Baudenkmäler restauriert, etwa der alte Königsberger Dom und andere Gebäude. Auch ein Kant-Denkmal steht wieder in Kaliningrad.

Lange Zeit profitierte Kaliningrad von seiner Lage als Russlands Tor zum Westen: Die abgeschottete Problemregion - die Aids-Rate war zu Beginn der 1990er Jahre nirgendwo in Russland so hoch wie in Kaliningrad - holte in den Nullerjahren auf. Besonders junge Menschen waren stolz auf das deutsche Erbe der Stadt und die Nähe zu Europa, man trank (und trinkt) "Königsberger Bier" und diskutierte über eine Rückbenennung der umgangssprachlich "Kjonig" genannten Stadt in Königsberg. Auch "Kantgrad" war im Gespräch.

Geworden ist daraus nichts: Nicht nur hatte man Angst, dass nach der Rückbenennung deutsche Vertriebene Ansprüche würden anmelden können. Auch den Namen Kaliningrad wollten viele nicht hergeben - ist er doch mit dem Neuaufbau der Stadt verbunden, um den ein sowjetischer Wiederaufbaumythos gerankt wurde.

Vor allem aber die politische Entwicklung seit 2014 hat einer solchen Entwicklung unüberwindbare Hürden aufgestellt. Sah Kaliningrad vor gut zehn Jahren seine Zukunft noch als eine Art Modellregion zwischen Russland und der EU - eine Sonderwirtschaftszone wurde eingerichtet, ein verbessertes elektronisches Mautsystem erleichterte Touristen aus der EU die Einreise -, so hat sich der Wind mittlerweile gedreht. Der Umstand, dass Litauen von der EU sanktionierte Waren wie Baumaterialien, aber auch Küchentechnik oder Zigarren nicht mehr von Weißrussland nach Kaliningrad lässt, erregt die Gemüter im Kreml, der Gegenmaßnahmen angekündigt hat - und sorgt in Kaliningrad für Unruhe: In Baumärkten gibt es Hamsterkäufe, viele decken sich mit vermeintlich bald knapp werdenden Gütern ein.

Ängste werden wach

Das Wort von der "Blockade" der Exklave weckt besondere Ängste: Es erinnert an die katastrophale Hungerblockade von Leningrad während des Krieges - und macht das Kreml-Narrativ glaubhaft, wonach Russland von Feinden umzingelt ist.

Tatsächlich erwecken Straßenbefragungen westlicher TV-Sender den Eindruck, dass auch in Kaliningrad die Mehrheit der Einwohner hinter dem Kriegskurs von Präsident Wladimir Putin steht - obwohl dessen Politik gerade für Kaliningrad üble Folgen hat: Aus dem weltoffenen Fenster zum Westen ist heute wieder der isolierte russische Vorposten geworden, ein Oblast, in dem Iskander-Atomraketen stationiert und auf europäische Städte gerichtet sind. Statt der erträumten EU-Visafreiheit winkt ein möglicher Dritter Weltkrieg, der sich um die nur 65 Kilometer breite "Suwalki-Lücke" zwischen Kaliningrad und dem russischen Verbündeten Weißrussland entzünden könnte, die von den Nato-Staaten Litauen und Polen beherrscht wird. "Wir sind hier eingesperrt", klagt ein Mann und munkelt: "Wir werden wohl bald unsere Sachen packen müssen."