Bereits seit März halten russische Truppen das Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine besetzt. In der Zwischenzeit hat sich der Frontverlauf gefährlich nahe des AKW verfestigt. Russland hat seinen Einfluss über Gebiete am Schwarzen und Asowschen Meer bis an das Südufer des Flusses Dnjepr ausgedehnt. Auf der Nordwestseite des wichtigsten Flusses der Ukraine stehen die Truppen, welche die Regierung in Kiew befehligt. Die ukrainische Armee startete zuletzt eine Offensive südlich des AKW in der Region um Cherson; um die Stadt, die vor dem Krieg knapp 300.000 Einwohner zählte, befindet sich das Mündungsdelta des Dnjepr ins Schwarze Meer. Saporischschja aber ist ein für die Ukraine nahezu unmöglich eroberbarer Ort.

Größtes AKW Europas

Russland hat nach Einnahme des größten Kernkraftwerks Europas dessen Areal teilweise zu einem Militärstützpunkt umfunktioniert und vermint. Auch Munition soll in Saporischschja gelagert werden. Von dort feuern die Truppen in Richtung der anderen Dnjepr-Seite, binden auf diese Weise ukrainische Truppen, die nach Cherson rücken wollen. Und die Ukrainer können keine militärisch angemessene Antwort geben, ohne das Reaktorareal zu gefährden.

Moskau und Kiew werfen einander militärische Provokationen um das AKW vor. Zwar gilt es als deutlich sicherer als Tschernobyl. Zufallstreffer mit Artillerie würden nicht automatisch zu grobem Schaden an einem Reaktor führen, erklärte ein Mitarbeiter der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) der "Süddeutschen Zeitung". Anders könnte dies bei einem gezielten Angriff mit schweren Geschossen aussehen. Der Chef der Atomenergie-Organisation IAEA, Rafael Grossi, warnte mit Blick auf Kämpfe vor einem "Spiel mit dem Feuer, mit möglichen katastrophalen Folgen".

Zwei der sechs Reaktoren schaltete die Ukraine bereits vorsorglich ab, bevor Russland das AKW einnahm. Bei der Eroberung wurden Gebäude auf dem Anlagengelände beschädigt, in einem weiteren brannte es. Radioaktivität sei jedoch bisher nicht ausgetreten, erklärt das ukrainische Personal, das unter russischer Besetzung weiter Dienst tut.

Nach Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und UN-Generalsekretär Antonio Guterres kündigte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan an, er werde mit Russlands Machthaber Wladimir Putin über Saporischschja sprechen. Selenskyj habe ihm gesagt, Russland müsse alle Minen in der Gegend entfernen. "Wir werden Putin darum bitten, dass Russland das tut, was es als wichtigen Schritt für den Weltfrieden tun muss", sagte Erdogan.

Am Freitag vermeldeten Putin und der französische Präsident Emmanuel Macron, dass sie sich in einem Telefonat für eine Inspektion durch die Internationale Atomenergiebehörde ausgesprochen haben. IAEA-Kontrolleure sollten das Kraftwerk "sobald wie möglich" besichtigen. Russland sichere die "erforderliche Mithilfe" zu.

20 Prozent des Stroms

Große Probleme drohen auch, wenn Hochspannungsleitungen zerstört werden. Eine davon wurde im August getroffen. Gefährlich würde es laut GRS, wenn alle Stromleitungen ausfallen und das Kraftwerk in den Notbetrieb mit Dieselgeneratoren umspringt. Ohne Nachschub könne auch die Kühlung ausfallen, worauf eine Kernschmelze drohe.

"Das russische Militär sucht derzeit Treibstofflieferanten für Dieselgeneratoren", vermeldete der staatliche ukrainische Energieversorger Energoatom am Freitag - um die Kühlsysteme am Laufen zu halten. Jedoch nicht aus Sorge vor einem Komplettausfall der Stromleitungen. Saporischschja solle vom ukrainischen Stromnetz genommen werden. Das wäre ein schwerer Schlag für die Ukraine, deckte das AKW vor Kriegsbeginn doch ein Fünftel des dortigen Stromverbrauchs. Bei Verknappung der Energieversorgung droht der Ukraine ein noch härterer Winter. (red./reuters)