Am Montag ließ die Leiterin des Pressezentrums des ukrainischen Operationskommandos Süd, Nataliya Humenyuk, aufhorchen, als sie vom Start von "Offensivaktionen (...) an vielen Fronten" und dem erfolgreichen Durchbruch in der ersten russischen Verteidigungslinie sprach. Aus Rücksicht auf die laufende Militäroperation wollte sie aber keine näheren Angaben machen. Die Nachricht verbreitete sich rasch, wobei Verwirrung über die Einordnung dieser Aussage entstand.

René Tebel ist politischer Analyst und gibt den Tebel-Report heraus (www.tebel-report.at). - © privat
René Tebel ist politischer Analyst und gibt den Tebel-Report heraus (www.tebel-report.at). - © privat

Bereits mehrfach hatten ukrainische Politiker und ranghohe Beamte den Beginn der Rückeroberung des Oblasts Cherson am rechten Ufer des Dnjepr und seiner gleichnamigen Hauptstadt angekündigt. Es blieb jedoch bei lokalen Kampfhandlungen, in deren Verlauf es den Ukrainern gelang, etwa 50 Ortschaften zurückzugewinnen - am 14. Juli nannten ukrainische Quellen 44 Ortschaften, am 2. August erwähnte das Institute for the Study of War weitere - und Ende Juli einen Brückenkopf bei Andriivka und Lozove am Südufer des Inhulets zu schlagen.

Doch diesmal gibt es einen wesentlichen Unterschied: Seit Ende Juni hat die Ukraine in diesem Frontabschnitt zwischen den Flüssen Inhulets im Norden und Dnjepr im Süden einen Vorteil durch die Lieferung von Mehrfachraketenwerfern. Mit den M142 Himars und den M270 MLRS besitzt sie in der gelieferten Version eine mit etwa 80 Kilometern verhältnismäßig weitreichende Waffe, die von der russischen Luftabwehr nicht abgefangen werden kann.

Kein russisches Ausweichen ins Hinterland möglich

Die unangenehme Folge für die russischen Streitkräfte besteht darin, dass ihre Truppenkonzentrationen, Munitionsdepots, Waffenlager, Nachschublinien, Kasernen, Basen und Stützpunkte im nördlich des Dnjepr gelegenen Teil des Oblasts Cherson nach Belieben von der ukrainischen Armee beschossen werden können. Zudem verstärken sich die ukrainischen Luftangriffe. Der russischen Armee fehlt in diesem Frontabschnitt auch die Möglichkeit, ins Hinterland auszuweichen, um dem Einsatzradius der Raketen zu entgehen.

Die Lage hat sich vor allem verschärft, seit die Ukrainer in der zweiten Juli-Hälfte damit begonnen haben, die Brücken über den Strom systematisch für schweres Gerät unbrauchbar zu machen. Zunächst traf es die 1,4 Kilometer lange Antoniwskyi-Straßenbrücke, danach die etwa 5 Kilometer weiter östlich gelegene Eisenbahnbrücke und zuletzt die Straße über den Damm von Nowa Kachowka.

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Damit stehen die russischen Einheiten im Norden des Dnjepr buchstäblich mit dem Rücken zur Wand und können nur über Pontonbrücken behelfsmäßig versorgt werden. Darauf reagierend, zog die russische Armee erst vor wenigen Tagen Truppen zusammen und verstärkte die Verteidigung des Frontabschnitts personell.

Weitgehend unbestätigte Informationen

Die Informationen über diese ukrainische Gegenoffensive sind vielfältig, aber letztlich weitgehend unbestätigt. Vorigen Sonntag, so wird gesichert berichtet, griffen Ukrainer das lokale russische Hauptquartier auf dem Gelände des ehemaligen Sokil-Werks in Nowa Kachowka an, von dem mehrere Explosionen gemeldet wurden. Ebenfalls bestätigt wurde der Beschuss von Nowa Kachowka am Montag. Gegenüber RIA Novosti erklärte der von Russland eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Leontjew, die Ukrainer hätten die Kachowka-Brücke, die entlang des Damms des Wasserkraftwerks verläuft, Verwaltungsgebäude und das Gebiet des Schleusenkanals bereits den ganzen Tag über beschossen. Eine nicht explodierte Himars-Rakete sei in den Hof eines Hauses gefallen, berichtete der Leiter der Bezirksverwaltung von Kachowka ferner. Weitere Ziele waren Militäreinrichtungen und militärisch wichtige Infrastruktur (einschließlich Flussübergänge) an der Front und im Hinterland im Großraum Cherson, in Nowa Kachowka und in Beryslav.

Darüber hinaus finden in mindestens vier Vormarschrichtungen militärische Durchbruchsversuche oder Durchbrüche statt. So soll Pravidne eingenommen worden sein. Informationen, wonach sich die ukrainischen Streitkräfte bereits an Tomyna Balka im Westen der Hauptstadt Cherson herangeschoben haben sollen, bestätigten sich indessen bisher nicht. Ein zweiter Angriff ist südwestlich von Snihuriwka im Gange, wo offenbar um Novomytrivka gekämpft wird. Der dritte Vorstoß erfolgt vom Brückenkopf südlich von Davydiv Brid aus, von wo aus Sukhyi Stavok im Visier der ukrainischen Armee steht. Letztlich versuchen die ukrainischen Truppen, im äußersten Nordosten des russischen Okkupationsgebietes Archanhelske einzunehmen.

Wie ist die Offensive zu bewerten?

Ungeachtet der möglichen Gebietsgewinne ist die ukrainische Gegenoffensive derzeit eher als Vorbereitung einer baldigen Großoffensive zu sehen, für die offenbar die Konstitution der russischen Streitkräfte auf die Probe gestellt wird. Allerdings könnten die ukrainischen Truppen mit Verstärkung rechnen. Kürzlich veröffentlichte Videos zeigen angeblich Panzerkolonnen in der Nähe von Mykolajiw, die sich in südliche Richtung bewegen. Als weiterer militärischer Grund könnte die angedeutete Offensive die bröckelnde Front im Dombass entlasten und russische Truppenverschiebungen provozieren.

Dennoch steht zum aktuellen Zeitpunkt eher ein politisches Kalkül hinter der Aktion: Sie könnte den ausländischen Unterstützern das Bild zu vermitteln, dass die Ukraine der Lieferung schwerer Waffen bedarf, um Russland zurückzuschlagen. Immerhin ist im September eine Geberkonferenz geplant. Zweifellos hängt der Zeitpunkt mit dem russischen Plan einer Annexion der Südukraine zusammen. Die Ukraine kann dadurch die Abhaltung eines Referendums im Gebiet nördlich des Dnjepr erschweren oder sogar verhindern, das Russland online, als Briefwahl oder in Abstimmungslokalen zeitgleich mit einigen russischen Kommunal- und Regionalwahlen am 11. September oder im kommenden Herbst veranstalten könnte.