In der Nähe der besetzten ukrainischen Stadt Polohy im Südosten des Landes erstrecken sich russische Panzerabwehrgräben über eine Länge von 30 Kilometern. Dahinter liegen Betonbarrikaden mit "Drachenzähnen". Rund einen Kilometer weiter befinden sich Verteidigungsgräben der russischen Truppen.

Die auf den Satellitenbildern des US-Raumfahrtunternehmens Capella Space sichtbaren Anlagen sind Teil einer dichten russischen Verteidigungslinie, die sich vom Westen Russlands über die Ostukraine bis zur Krim erstreckt. Reuters hat Aufnahmen von tausenden Stellungen innerhalb Russlands und entlang der ukrainischen Frontlinien ausgewertet. Demnach ist die südliche Region Saporischschja als Tor zur Halbinsel Krim am stärksten befestigt. So erwarten die russischen Streitkräfte die Gegenoffensive der Ukraine.

Eine Offensive, die nach den Worten des Chefs der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, für Russland trotz aller Vorbereitungen zur "Tragödie" werden könnte. Er beklagt, dass seine Kämpfer nur über 15 Prozent der benötigten Munition verfügen würden.

Drohnenangriff war "Vorbereitung"

Die ukrainischen Truppen trainieren unterdessen im Westen des Landes für den Angriff. Dieser wird nach Angaben ukrainischer Offizieller stattfinden, sobald die Streitkräfte dazu bereit sind. Der Drohnenangriff auf die von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim am Samstag war laut ukrainischem Militär bereits eine Vorbereitung auf die geplante Offensive. "Diese Arbeit bereitet die groß angelegte Offensive vor, auf die alle warten", hieß es.

Die russische Seite antwortet mit Raketenangriffen. Die Luftabwehr der Ukrainer schoss nach Angaben des ukrainischen Militärs in der Nacht auf Montag 15 von 18 von russischen Flugzeugen aus gestarteten Raketen ab. Die Angriffe sollen offenbar den ukrainischen Aufmarsch behindern, unter den Opfern sind allerdings zahlreiche Zivilisten.

Nach Angaben von sechs Militärexperten könnten die russischen Befestigungen die ukrainische Offensive empfindlich bremsen. Die Frage sei, ob die Ukraine komplexe, koordinierte Operationen mit verbundenen Waffensystemen durchführen könne, sagt Neil Melvin, Analyst am britischen Royal United Services Institute. "Die Russen haben gezeigt, dass sie dazu nicht in der Lage sind, und sind zu ihrer alten sowjetischen Methode der Abnutzung zurückgekehrt." Eine ukrainische Gegenoffensive könnte die Dynamik des Krieges verändern, der sich zu einer blutigen Zermürbungsschlacht verlangsamt hat. Sollte Kiew die Kontrolle über den Süden zurückerobern, könnte es ungehinderten Zugang zu seinen Exportrouten am Schwarzen Meer zurückgewinnen.

Doch Kiew kann den Experten zufolge in der nächsten Zeit wohl nicht auf weitere umfangreiche Waffenlieferungen aus den westlichen Ländern setzen und steht deshalb unter Druck, so viel Land wie möglich zurückzuerobern. "Wir haben die meisten Bestände des Westens abgebaut", sagt Melvin. Es werde einige Jahre dauern, bis diese wieder aufgebaut seien.

Gräben verlaufen quer durch Saporischschja

Die Ukraine hat sich zum Ziel gesetzt, das gesamte von Russland besetzte Gebiet zurückzuerobern - eine Fläche von der Größe Bulgariens. Russland will wiederum einen erneuten Rückzug wie etwa aus der Stadt Cherson vermeiden und hat deshalb ab November damit begonnen, mehrschichtige Gräben auszuheben, um seine Truppen stärker zu verschanzen. Dies geht aus den Auswertungen der Satellitenbilder hervor.

Die sich über hunderte Kilometer erstreckenden Verteidigungsanlagen markieren laut Militärexperten Gebiete, in denen Russland mit einem Angriff rechnet oder die es als strategisch wichtig erachtet. Dem Bildmaterial zufolge konzentrieren sich die russischen Stellungen vor allem nahe der Frontlinien in der südöstlichen Region Saporischschja, im Osten und auf dem schmalen Landstreifen, der die Krim mit dem Rest der Ukraine verbindet.

"Es gibt Gräben, die quer durch die Region Saporischschja verlaufen", sagt John Ford, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Middlebury Institute of International Studies im kalifornischen Monterey. Er schätzt allein diesen Abschnitt auf über 120 Kilometer. Die Satellitenbilder der Region zeigen, dass einige Städte von Befestigungsanlagen umschlossen sind. Entlang von Straßen, vor Siedlungen und auf den Flughäfen von Melitopol und Berdjansk wurden Gräben ausgehoben. Auch der Norden der Krim wurde befestigt. Hinzu kämen Minenfelder und Stacheldraht.

Alle befragten Militärexperten gehen davon aus, dass der Schwerpunkt einer ukrainischen Gegenoffensive im Süden liegen wird. Der Süden sei für die Ukraine von strategischer Bedeutung, sagt Oleksandr Musijenko, ein Militäranalyst aus Kiew. Ein tiefes Vordringen dort könne nicht nur den Landkorridor von Russland zur besetzten Krim unterbrechen, sondern auch die Halbinsel in Reichweite der Artillerie bringen.

Länge der Front als Achillesferse

Trotz des dichten Verteidigungsnetzes könnte die Länge der Front die russischen Streitkräfte überfordern, meinen vier der Experten. Diese Schwachstelle werde Kiew mit Finten, Ablenkungen, Überraschungen und Schnelligkeit auszunutzen versuchen. Nach Schätzung von Musijenko stehen der Ukraine für einen Angriff rund 100.000 Mann zur Verfügung. Über die Anzahl russischer Soldaten in der Ukraine oder kampfbereiter Truppen innerhalb seiner Grenzen macht der Kreml keine Angaben.

Die Ukraine habe es auf logistische Knotenpunkte abgesehen, wie sie es vor der Rückeroberung der Stadt Cherson getan habe, sagt Musijenko. Eine Zerstörung der Nachschublinien würde die Schützengräben in ihrer Verteidigungsfähigkeit schwächen. Experte Ford resümiert: "Hindernisse auf dem Schlachtfeld sind nur so lange Hindernisse, wie sie von fähigen Truppen bewacht werden können."(reuters)