Wien. Der Taktschlag der Zeit, er erhöht sich, jeder Schlag bringt Neues. Das Angebot der immer vielfältiger werdenden Konsumgüter, bunt schillernder Lebensentwürfe und anderer Möglichkeiten der individuellen Ausgestaltung von Persönlichkeit wächst exponentiell dazu. Nicht nur die Gesellschaft segmentiert sich dabei, differenziert sich, wird diverser und schnelllebiger. Auch das Leben jedes und jeder Einzelnen wird dadurch kurzzyklischer - sei es in der Mode, im Medienverhalten, in der technischen Entwicklung, im Berufsleben, in der Politik oder im intimen Liebesleben.
Mehr noch: Veränderung und Erneuerung stehen oft als Selbstzweck auf dem Jahres- oder gar Tagesplan. Tradition als höchstes Ziel - das war einmal, Innovation und Erneuerung sind angesagt. Und sei es eben nur der Erneuerung wegen. Jede dieser Veränderungen bedeutet aber auch einen Abschied, ein Scheiden, eine Trennung von dem, was bisher war - einen Abschied von der glitzernden Sandale der vergangenen Saison, von der sorgsam unterfütterten politischen Meinung, dem Seelenheil bringenden spirituellen Pfad, vom schal gewordenen Erwerbsjob, dem gerade noch neu gewesenen Smartphone oder vom plötzlich einengenden Lebensabschnittspartner, dem man nichts mehr zu sagen hat. Scheiden, sich trennen, das passiert dabei in immer kürzeren Intervallen und in immer mehr Lebensbereichen.
Geschuldet ist diese Takterhöhung den immer höher gesteckten Idealen, denen sich alle Lebensbereiche zu unterwerfen haben. Kommt da vielleicht noch ein besserer Partner, eine idealere Partnerin? Kann ich mich in diesem Job wirklich ganz entfalten? Unterstreicht mein aktueller Kleidungsstil meine gegenwärtige Persönlichkeit? Sagt meine Wohnung das über mich aus, was ich wirklich intendiert habe? Kann ich mich noch ganz mit dem Weltbild meiner Religion, meiner Partei identifizieren? Entspricht mir mein Leben bis in die letzte Müslitasse? In den meisten dieser Fälle inkludiert allein schon die Fragestellung eine negative Antwort, aus der eine Trennung resultiert.
Scheiden tut weh!
Die aktuelle Trennungsfreudigkeit ist ein Phänomen, das sich eine Gesellschaft leisten können muss. Sie erfordert sowohl eine gewisse soziale Stabilität, die ein Leben ohne gewachsene persönliche Netze, ohne engmaschigen familiären Zusammenhalt ermöglicht. Und sie braucht die finanziellen Mittel, um all die schönen neuen Welten auch erschaffen und entsprechend ausschmücken zu können. Irgendwann wird in der daraus erwachsenen Konsumgesellschaft die Trennung zur notwendigen Voraussetzung für ihr eigenes Fortbestehen. Das Karussell an Dienstleistungen, Information und Konsumgütern muss sich weiterdrehen, damit der Motor nicht ins Stocken gerät, die Wohnungen und Schränke, Gehirne und Herzen nicht im Überfluss der gehäuteten Identitäten vermüllen. Kurzum: Die Trennungswut ist ein Resultat der globalisierten Wohlstandsgesellschaft.
Aber dein Scheiden macht. . .
Zurecht kommt freilich nicht jeder mit der damit verbundenen Kurzatmigkeit. Die Debatte ist dreigespalten. Während die einen von der Freiheit schwärmen, sich zu trennen, die freigesetzte Energie des Scheidens, ja den Zauber des Endes heraufbeschwören, diagnostizieren andere unserer Zeit, zumindest aber einer Generation junger Erwachsener absolute Beziehungsunfähigkeit und beklagen das damit einhergehende Unvermögen, sich überhaupt noch eindeutig für etwas entscheiden zu können - statt immer nur dagegen. Die dritte Seite schließlich ergeht sich in einem warnenden wie heftigen Plädoyer für die Beständigkeit, setzt sich ein für das Dranbleiben, das Zusammenbleiben und die wiederzuentdeckende Qualität einer konstanten, ja beständigen Lebensführung.

Wie so oft gilt auch hier: Es haben alle drei Seiten recht. Sicher: Die Entscheidung für etwas, die Bindung an jemanden, das gibt Identität und Halt, bindet aber auch Energie. Eine Trennung setzt diese Kraft wieder frei - sei es als beflügelnden Rauschzustand, tiefen Schmerz einer erlittenen Trennung oder ein Wechselbad aus beidem.
Heike Blümner und Laura Ewert beschwören diese befreiende Kraft des Schlusstriches, vor allem auf Paarbeziehungen angewandt, ausführlich in ihrem neuen Buch "Schluss jetzt". Sie erzählen anhand vieler Fallbeispiele von Paaren auf dem Irrweg, von Lebensentwürfen, die sich von einander entfernt haben, und von gekoppelten Lebenszügen, die unbemerkt immer schon auf unterschiedlichen Gleisen unterwegs waren. Bei allem Beleuchten der Stolpersteine und Schattenseiten sprechen sich die beiden Autorinnen klar für ein schnelles Ende aus. "Wer nämlich so lange wartet, bis das Bauchgefühl Richtung Blinddarmdurchbruch geht, der muss dann am Schluss ganz schnell gehen. Und dann wird auf Narbenverläufe garantiert keine Rücksicht mehr genommen." Sie prangern das eingelernte Missverständnis an, "eine Beziehung sei der höchste zu erreichende Daseinszustand", und wollen "Beziehungen endlich vom Ende her erzählen". Ihr Ziel ist es, Trennung zu einem besseren Image zu verhelfen, mehr Frauen die Chance auf diesen "emanzipatorischen Akt" zu eröffnen - bei allem Bewusstsein, dass aktuelle Lebensentwürfe mit Teilzeit arbeitenden Müttern in finanzieller Abhängigkeit vom Partner nicht die besten Voraussetzungen für diese Befreiungsschläge sind.
. . . dass mir das Herze lacht!
Der Zauber, den sie dabei in jedem Ende orten, ist natürlich ein Trugschluss - er steckt im zeitgleich einsetzenden Neubeginn.
Die Analyse von Michael Nast liest sich da etwas anders. Mit "Generation Beziehungsunfähig" hat er einen Nerv unserer Zeit getroffen. "Wir befinden uns in einem anhaltenden Zustand der Selbstoptimierung", schreibt er. Überall lauert dabei der Gedanke, "dass alles noch viel besser sein könnte". Als Fazit dieser plagenden Ego-Pflege kommt er zu dem Schluss: "Wer sich ausschließlich auf sich selbst beschränkt, verpasst eben auch alles andere." Mit einander und am Gegenüber zu wachsen etwa, gemeinsam Krisen zu bewältigen und nicht zuletzt aus den Wiederholungsschleifen eigener Muster auszubrechen. Wir können uns für nichts mehr richtig entscheiden, uns nur halbherzig binden, lautet die leidvolle These Nasts. Das Scheitern ist immer schon mit eingeplant.
Die Liste der Titel, die Paaren dabei helfen wollen, zusammen zu bleiben, aneinander zu wachsen, ist schier endlos. Sie füllt Ratgeber-Regalwände und hat den Berufsstand der Paartherapeuten entstehen lassen. Drum prüfe, wer sich ewig bindet - diese Parole taucht dabei selten auf. Dafür ist es meist schon zu spät. Denn die Trennung als immer schon mitgedachte Option lässt sich leichtfüßiger binden. Doch der Ruf danach, dem schnellen Taktgeber des Innovationszwanges entgegenzutreten, um nicht immer nur an der Oberfläche der egozentrierten Identitätsausschmückung hängen zu bleiben, verbindet viele dieser Stimmen.
Was allen drei Klagenden helfen könnte? Idealisierungen etwa von ewiger Liebe aufzubrechen; oder Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Trennungen aus gesundheitsschädlichen Beziehungen finanziell und emotional überlebbar sind - sei es beruflich oder privat. Aber auch das Plädoyer für die Erkenntnis, dass die äußere Veränderung das innere Problem nicht löst, sondern nur verlagert und aufschiebt.
Den einen großen Abschied, die letzte aller Trennungen am Ende des Lebens macht die Kontinuität und das damit verbundene Vordringen zur eigenen Substanz vielleicht sogar etwas leichter. Mit dem Wissen um die Unmöglichkeit, das eigene Leben zu verpassen, mag das letzte Scheiden womöglich besser gelingen - als mit der rastlosen Illusion, ständige kleine Trennungen könnten uns darauf vorbereitet haben.