Sein oder Nichtsein? In einer Zeit, da Werktreue noch nicht über alles ging, musste die Lebenserwartung des Prinzen von Dänemark nicht unbedingt kurz ausfallen. So im Paris des Jahres 1847: Dank den Text-Adapteuren Alexandre Dumas Père und Paul Meruice überlebt Hamlet nicht nur seinen Rachefeldzug; der Geist des Vaters kürt den Spross mit den Worten "Tu vivras" zum König.

Happyend für Hamlet: Das stellte sich 20 Jahre später abermals an der Seine ein, als eine neue Oper debütierte - und reüssierte. Es waren die Hitfabrikanten Michel Carré und Jules Barbier, die das Libretto für diesen "Hamlet" geliefert hatten. Die Partitur von Ambroise Thomas (1811-1896) pinselte dann nicht nur raffinierte Klangmalerei nach französischem Gusto - sie prunkt mit so viel Sinn für vokale Sinnlichkeit, dass Hamlet zu einem der meistgefeierten Opernhelden im Frankreich des 19. Jahrhunderts aufstieg. Ja, selbst der Rückimport nach England glückte - wenn auch mit einem neuen Finale für Shakespeares Heimat: Nun konnte Hamlet wieder sterben. Indes: Es erstarb zur Jahrhundertwende dann auch langsam das Interesse an diesem "Hamlet". Bis in die 1980er Jahre, als man sich des einstigen Straßenfegers wieder zu entsinnen begann.
Spannungsbogen bricht
Aber fegt er noch heute die Operngeher ins Haus? Der jüngste Wiederbelebungsversuch - seit Montag im Theater an der Wien, ab 2013 in Brüssel - lässt Zweifel aufkommen. Gewiss, da lockt ein Exot: Wann ist diese Opernorchidee sonst schon zu sehen? Andererseits ist die Mängelliste lang. Zwar stellt Thomas die Vorzeichen auf Grand opéra, lässt dann aber doch immer wieder leutselige Dreiviertel-Takte Italianità hereinwehen. Was schwerer wiegt: dass dieser dreieinhalbstündige "Hamlet" mit Energieverlust kämpft. Wohl ist Thomas eine Perlenkette (überwiegend) brillanter Einzelnummern gelungen - ein zwingender Spannungsbogen aber noch lange nicht. So astrein der Franzose Arien, Duette, Ensembles drechselt: In ihrer Vielzahl erweisen sie sich, gerade in der zweiten Hälfte, als veritabler Tragödien-Mühlstein - mag Ophelia noch so elektrisierend Wahnsinn und Wasser anheimfallen. Und apropos Ophelia: Nicht nur die Handlung, auch die Charaktere haben Carré und Barbier nach späterer Hollywood-Sitte massiv versimpelt: Ophelia ist nun ein Ausbund an Madonnenreinheit - und Hamlet nicht mehr schmerzerfüllter Zweifler, sondern pflichtbeladener Heros.
Bei diesem Charakterschwund setzt Regisseur Olivier Py an. In seinem Bestreben, "Hamlet" zu re-shakespeareisieren, zeichnet er den Prinzen schon zu Beginn schmerzensreich. Beziehungsweise dieser sich selbst: Während die Mutter den bösen Onkel ehelicht, ritzt sich der Prinz den Oberkörper wund. Ein Getriebener seines Schmerzes, freilich auch des väterlichen Racheauftrages: Den trägt ihm ein ominöser Mann mit Glitzermaske zu, umwölkt von Bühnennebeln, thronend auf hohen Mauern: ein archaischer Augenschmaus.
Eine Schauerbühne
Wobei Ziegel in der Ausstattung von Pierre-André Weitz überhaupt Trumpf sind. Ein Kellergewölbe, sängerfreundlich kompakt, prangt am Anfang und Ende des Abends. Und wo sich Wahnsinn Bahn bricht jenseits der höfischen Ranküne, umlichtern bacchantische Figuren die Protagonisten.
So weit, so anschaulich. Doch à la longue erweist sich der zu befüllende Ideen-Stauraum (Dauer der Oper: dreieinhalb Stunden!) als zu groß für Py und Weitz. Zwar erfüllt das Ensemble seine darstellerischen Pflichten engagiert. Aber die Geschichte schnurrt weiträumig im Autopilot ab. Da gaukelt die Drehbühne Betriebsamkeit vor, während sich die Bühne in eine monotone Schmerzensdunkelkammer verwandelt hat.
Zwar meldet sich Py zeitweilig zurück. Doch mit Stückwerk: Hier Revoluzzer, die ihre Energie wie plumpe Pausenclowns veräußern; dort ein splitterfasernackter Hamlet, der seine Mutter in einer Art Agamemnon-Gedächtnisbadewanne zu ertränken versucht und sie dann ödipal übermannt. Und dann das Finale, ein Mix aus Ur- und Londoner Fassung: Nach vollzogenem Racheakt legt der Prinz Hand an sich - und sargt sich buchstäblich selber ein. In Cartoon-Tempo besteigt sogleich ein Claudius-Lookalike in Siegerpose den Sarg. Alles umsonst?
Mächtige Klanggemälde
Musikalisch jedenfalls nicht. Marc Minkowski entlockt den Wiener Symphonikern Stupendes. Da erstehen mächtige, teils übermächtige Klanggemälde bis hin zur pittoresken Collage. Doch es rankt sich auch Lyrik: Das sanft geführte Saxofon, die wachsweich geführte Soloposaune - sie treffen bei den Tuttisten auf feinfühlige Unterstützung. Auch das Zusammenspiel mit dem Schönberg-Chor beschert präzisen Effekt.
Für Ausdruckskraft von geradezu chirurgischer Präzision ist Christine Schäfer bekannt - und kann diesem Ruf auch in den weißglühenden Wahnsinnskoloraturen der Ophelia (fast) durchwegs gerecht werden: eine Bravourleistung. Ein furioser Sängerdarsteller auch Stéphane Degout, der dem Hamlet geschmeidige Töne verleiht, seine Wuchtstimme mitunter aber auch etwas undifferenziert aufdreht. Stella Grigorian streckt sich als Gertrude eindrucksvoll nach den Sternen dieser höchstdramatischen Rolle; und während der Bass von Jerome Varnier dem Geist eine schlank-orgelnde Komtur-Aura verleiht, schenkt jener von Phillip Ens dem fiesen Claudius fülliges Leben.
Vital reagierte letztlich auch das Publikum: zwar nicht auf Py, aber auf Minkowski, der sich als beredter Fürsprecher eines - zumindest kennenlernenswerten - Werks hervortat.