Verona. Er ist heute ohne seinen Hund Romeo gekommen. Beim Lesen der Briefe braucht Gianni Carrabetta nämlich Ruhe und beim Verfassen einer Antwort umso mehr, schließlich schreibt er im Namen von Shakespeares Julia. Und das ist eine Verantwortung. Begonnen hat diese Sache mit Julia und den Briefen vor sechs Jahren. Der Pensionist schlenderte gerade durch Veronas Altstadt, als er beobachtete, wie eine junge Frau an der Mauer des Julia-Hauses einen Zettel befestigte. "Julia, ich wünsche mir einen Vater für mein Kind", las er dort. Der 59-Jährige machte sich auf die Suche, nicht nach einem Vater für ihr Kind, aber nach jenen Leuten, die sich um diese und die unzähligen anderen an Julia gerichteten Botschaften kümmerten. In einem lachsfarbenen Gebäude an der Via Galilei Nr. 3 fand er sie - die Zentrale des Club di Giulietta, in der eine 15-köpfige Truppe stellvertretend für Romeos Julia Liebeskummerbriefe aus aller Welt beantwortet. Pensionist Gianni wollte mitmachen. Er wurde getestet und aufgenommen, seither ist der ehemalige Pharma-Manager Sekretär von Shakespeares Julia.
Mehrere tausend Briefe
Ein paar Tische, bunte Bilder an den Wänden und Kartonboxen, aus denen hunderte Briefe blinzeln. Das ist das Büro - ein wenig in die Jahre gekommen, aber charmant. So wie Pensionist Gianni. Er und ein junger Kunststudent sind die einzigen männlichen Sekretäre, sonst arbeiten hier nur Frauen: verheiratet, geschieden und alleinstehend, manche kommen täglich, andere nur hie und da, doch alle fünfzehn verbindet die Liebe zur Liebe und alle machen es ehrenamtlich: Ballett-Tänzerin Barbara, Japanisch-Übersetzerin Manuela oder natürlich Giovanna Tamassia: Sie gehört zu jenen, die täglich kommen und Stunden bleiben. Seit 20 Jahren. Es sei schön, sagt die 49-Jährige, anderen zu helfen. Wie viele Briefe sie gelesen hat, weiß Giovanna nicht mehr, tausende waren es gewiss. Nur bei privater Korrespondenz, wenn sie versehentlich als Julia unterzeichne, werde ihr bewusst, wie sehr sie schon zu Julia geworden ist.

Soll ich um ihn kämpfen? Hat er eine Neue? Liebt sie mich? - Betagte Witwer mit der Sehnsucht nach einer späten Liebelei vertrauen sich der Heldin aus Romeo & Julia ebenso an wie schüchterne Teenager, die sich in einen Burschen aus der Nebenklasse verliebt haben. Und manchmal sind es auch ganz junge Schreiber, die sich melden. Die Frauen lächeln. "Liebe Julia", hatte ein sechsjähriges Mädchen aus Italien geschrieben. "Woran erkenne ich, ob ich jemanden liebe?" Julia antwortete: "Wenn du ihm begegnest, wirst du es spüren." Giovanna schiebt einen anderen Brief über den Tisch, verfasst von einer 70-jährigen Dame aus Deutschland, die "noch immer von ihrer ersten Liebe träumt", einem Italiener namens Mimmo. Ob Julia wohl helfen könne, ihn zu finden? "Ob er noch lebt", schreibt sie, "ich wüsste es so gerne." Die Veroneser Briefschreiberinnen werden sich darum kümmern.
Ganz lebendig
Suchaufträge wie diese sind indes selten, weit öfter fragen Menschen nur nach gutem Rat. Andere Male wiederum geht es um ein bisschen Trost. Vor einiger Zeit wandte sich etwa ein 65-jähriger Mann aus Gran Canaria an Julia und stellte bekümmert fest, die Idee der Liebe verraten zu haben, denn zeit seines Lebens hätte er kein einziges Mal geliebt - nie eine Frau umarmt, nie geküsst. "Mit diesen Zeilen an mich" - das sollte der 65-Jährige Wochen später im Antwortschreiben lesen - "hast du den ersten wichtigen Schritt getan. Deine Julia." Für einen Moment ist es still in der Runde. Pensionist Gianni wackelt nachdenklich mit dem Kopf.
Mitgefühl, Hausverstand und Schreibtalent. Das sind die drei Dinge, die die Sekretäre und Sekretärinnen Julias, wie sie sich selbst bezeichnen, mitbringen müssen. "Julia ist wie eine liebevolle Freundin", sagt Manuela Uber, die Japanisch-Übersetzerin. "Es geht weniger darum, mit einer Lösung aufzuwarten, als den Leuten das Gefühl zu geben, jemand hört ihnen zu." Auch wenn Shakespeare seine Liebesheldin sterben ließ, ist sie bis heute eine Identifikationsfigur - eine mutige junge Frau, die stets ihrem Herzen gefolgt ist, allen Hindernissen zum Trotz. Und bei einer fremden, doch gleichzeitig so vertrauten Person wie Julia lassen sich Gefühle offenbar besonders leicht von der Seele schreiben.
Juliet. Verona - Italy. So sind die Briefe häufig adressiert. Der Postbedienstete wird schon wissen und ja, er weiß: Alle 10.000 Schreiben stellt er jährlich zu, besonders viele kommen aus den USA, Japan, Russland, aber auch aus Deutschland oder Brasilien, und die 15 Mitarbeiter beantworten alle: jeden persönlich und handschriftlich, egal welche Sprache - viele beherrscht man selbst, bei anderen gibt es Hilfe. Bei Post aus China etwa sprang für einige Zeit ein chinesischer Lokalbesitzer ein. Und einmal kam sogar ein Brief in Braille-Schrift. Julia schrieb zurück. In Braille. "Manchmal erhalten wir auch lustige Anfragen", sagt Giovanna und erzählt von einer Teenagerin, die Julia befragte, wie es Romeo gelungen sei, über den Balkon in ihr Zimmer zu gelangen. "Meine Eltern erlauben meinem Freund nicht, mich zu besuchen, weswegen ich ihn einschmuggeln muss. Ich wohne im dritten Stock. Sag mir, welche Klettertechnik verwendete Romeo?"