Es gibt kein einziges gesichertes Porträt von ihm - nicht schlecht für einen Spion. Nur ein Bild existiert, das wahrscheinlich Christopher Marlowe zeigt. Es ist auf das Jahr 1585 datiert und enthält in der linken oberen Ecke ein lateinisches Motto: "Quod me nutrit me destruit" (was mich ernährt, zerstört mich). Wenn das Bild tatsächlich Christopher Marlowe zeigt, dann wäre er zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt gewesen. Das schöne Gesicht wird dominiert vom klaren Blick der dunklen Augen, der Mund ist umspielt von einem etwas spöttischen Lächeln. Überragende Intelligenz liegt in diesen Zügen ebenso wie Hochmut. Auch Abenteuerlust? - Vielleicht interpretieren wir sie nur hinein, weil wir die Vita des Dichters kennen.

Dieses Porträt zeigt wahrscheinlich Christopher Marlowe im Alter von 21 Jahren. Gesichert ist das freilich nicht. - © wikipedia
Dieses Porträt zeigt wahrscheinlich Christopher Marlowe im Alter von 21 Jahren. Gesichert ist das freilich nicht. - © wikipedia

Christopher Marlowe also: Geheimagent ihrer Majestät Elizabeth I., Königin von England, Spion in Diensten des gegnerischen schottischen Königshauses, bezichtigt der Münzfälscherei, Atheist, Homosexueller, ermordet in einem Wirtshausstreit, der aber, wohl als Teil einer Verschwörung gezielt provoziert wurde, Autor der "Tragicall History of Dr Faustus" und damit des Modells für das bedeutendste Drama der deutschsprachigen Literatur, Goethes "Faust", Autor auch von "Edward II", dem ersten Drama der Literaturgeschichte, das Homosexualität thematisiert, Autor vielleicht auch von "Hamlet", "Lear", "The Tempest". Denn Verschwörung und Mystifikation gehören zu Christopher Marlowe wie die protestantische Bigotterie zum elisabethanischen England.

Wer war Marlowe?

Christopher Marlowes genaues Geburtsdatum ist unbekannt, getauft wurde er auf den Tag genau vor 450 Jahren, am 26. Februar 1564 in Canterbury.

Dass seine Biografie weitestgehend im Dunkeln liegt, wie oft behauptet wird, stimmt freilich nicht ganz: Man kann sie aus verstreuten Quellen halbwegs gut rekonstruieren - besser geht es mit kaum einem anderen bürgerlichen Engländer jener Tage. Denn Marlowe ist nichts Besonderes. Dramen gelten als Alltagsunterhaltung, vergleichbar mit unseren Fernseh-Serien. (Nennen Sie mal den Drehbuchautor der 273. "Tatort"-Folge. Na eben... Und die elisabethanischen Engländer hätten über solche Notwendigen, die aber doch Unbekannte sind, Biografien schreiben sollen?)

Marlowe, der auch Marlar, Marley, Marlen, Marlin, Marlye, Marlyn, Marlo, Merling, Merlin, Morley, Morleyn und auf mannigfache andere Weise geschrieben wird, so unterschiedlich, dass oft zweifelhaft ist, ob es sich bei all diesen Nennungen wirklich um jenen Christopher handelt, den man mit Spitznamen "Kit" nennt, dieser Marlowe also, Sohn eines Schusters, erhält ein Stipendium, das ihm in Canterbury und Cambridge eine gute Ausbildung ermöglicht.

Verschwörung ohne Theorie

In London schreibt er Dramen, lebt mit dem Dramatiker Thomas Kyd zusammen, wird verhaftet, weil er den Atheismus propagiert, doch auf Fürsprache seines Vorgesetzten Thomas Walsingham wieder enthaftet. Walsingham ist übrigens Chef der Geheimpolizei ihrer Majestät. Doch Marlowe unterhält auch Beziehungen zum schottischen Hof. Und dann also, am 30. Mai 1593, kommt es zur tödlichen Auseinandersetzung.

Und eine grandiose Mystifikation beginnt, die grandioseste der gesamten Literaturgeschichte.

Denn was da in Deptford geschehen ist, ist sehr eigentümlich, und die Untersuchung danach riecht nach geheimdienstlichem Vertuschungsmanöver. So basiert die amtliche Feststellung des Todeshergangs ausschließlich auf den Aussagen dreier anwesender Personen, die allesamt dem Umfeld Walsinghams entstammten, also des Freundes und Schutzpatrons Marlowes. Obendrein war den 16 Geschworenen, welche die Totenschau durchführten, das Gesicht Marlowes mit Sicherheit unbekannt. Sie identifizierten die Leiche als Marlowe, weil man ihnen sagte, es handle sich um Marlowe. Aber war es Marlowe?

Möglicherweise ja.

Möglicherweise nein.

Die Argumente dafür und die Argumente dagegen halten einander in Balance.

Die spannende Frage ist nun: Wenn Marlowe nicht umgebracht wurde, sondern sein Untertauchen inszeniert worden war, hat er dann auch weiter Stücke geschrieben? Und hat er sie, da er sie schwerlich unter seinem eigenen Namen herausbringen konnte, unter dem Pseudonym William Shakespeare veröffentlicht?

Eines ist klar: Marlowes Bildung passt besser mit den Dramen wie "A Midsummer Night‘s Dream" und "Hamlet" zusammen als die jenes Provinzlers, der sie der landläufigen Meinung nach verfasst hat und dessen Leben nur unter den Aspekten "vielleicht", "vermutlich" und "möglicherweise" referiert werden kann.

Gesicherte Autorenschaft? - Die europäische Literaturgeschichte kennt nicht nur manch Gegenbeispiel - sie beginnt gleich mit einem solchen: Homer. Ein fiktiver Autor, unter dessen Namen zwei Epen erscheinen, von denen nicht einmal sicher ist, ob sie das Werk eines einzigen Autors sind oder das mehrerer Autoren. Auf den gälischen Dichter Ossian, der in Wirklichkeit der Schotte James Macpherson war, ist sogar Goethe hereingefallen. Leopold von Sacher-Masoch schrieb unter den Frauennamen Charlotte Arand und Zoë von Rodenbach, Mary Anne Evans verfuhr umgekehrt und schrieb ihre sozialkritischen Romane als George Eliot.