Diener des Publikums
In der Tradition der Schauertragödien, mit Gräuel und Grausamkeiten zuhauf bei offener Szene, hatte der Dichter begonnen. Mit wuchtigen Darstellungen der englischen Rosenkriege hatte er das beliebte Genre der Historiendramen neu belebt. Dazwischen wurden luftig-leichte Komödien nach antiken Vorbildern eingestreut: Alles nach dem Gusto seines Publikums, das auf den unterschiedlichsten Geschmacks- und Bildungsebenen bedient wurde.
In den großen, nach 1600 entstandenen Stücken erweiterte Shakespeare schließlich sein Gesichtsfeld zu einem einzigartigen theatrum mundi, in dem der Mensch, Spieler wie Zuschauer, wie in einem brausenden Erkenntnissturm staunend seiner Ausgesetztheit im Weltmeer seiner Existenz gewahr wird. Die damals entstandenen großen Tragödien, "Hamlet", "Othello", "Macbeth", "König Lear", "Der Sturm", sind Expeditionen an die Grenzen des Menschenmöglichen. In ihnen kämpft der Einzelne wie ein Schiffbrüchiger gegen den Untergang jener Werte und Überzeugungen an, die ihn als Individuum überleben lassen.
Vergnügen und jähe Erkenntnis sind in Shakespeares Dramen ebenso untrennbar miteinander verquickt wie der Kampf der Leidenschaften wider die Vernunft. Geschichte wird als schwelende Lunte gezeigt, die jederzeit einen Flächenbrand auslösen kann, der Folter, Qualen, Tod und blutige Gewalt nach sich zieht. Das Einzigartige aber ist das Wunderwesen Mensch, das von Shakespeare in nie erkannter Größe und zugleich nie ausgeloteter Abgründigkeit beschworen wird.
Vor der "fast unbegreiflichen Fruchtbarkeit" Shakespeares fiel einst Victor Hugo ins Staunen: "In Shakespeare singen die Vögel, grünen die Büsche, lieben die Herzen, leiden die Seelen und ziehen die Wolken; es ist warm, es ist kalt, die Nacht sinkt, die Zeit vergeht, die Wälder und die Völker sprechen." Von diesem Zauber kündet auch Prospero, der Magier in Shakespeares letztem Stück "Der Sturm". Es gilt als das künstlerische Vermächtnis des Dramatikers: Der Wortbeschwörer, der von der Insel seiner Bühnenkunst zurückkehrt in die vertraute heimatliche Umgebung, so wie sein Urheber zehn Jahre vor seinem Tod heimkehrte nach Stratford. Dort starb Shakespeare am 23. April 1616, nicht ohne vorher sein Testament gemacht zu haben.
Deutsche Verehrer
150 Jahre nach seinem Tod wurde man in Deutschland, in der Gärungszeit des "Sturm und Drang", ob der eigenen Shakespeare-Entdeckung schier närrisch. Gezündet hatte den Funken Gotthold Ephraim Lessing, der 1759 im 17. seiner "Briefe die neueste Literatur betreffend" zum ersten Mal auf die hell lodernde Feuerkraft des Stratforder Dramatikers hingewiesen hatte ("Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein"). Es folgte Herder, der in Shakespeare den "Dolmetscher der Natur in all ihren Zungen" erkannte und bereits 1772 in seinem Aufsatz "Shakespeare" Anlass hatte auszurufen: "Welche Bibliothek ist schon über, für und wider ihn geschrieben!" Schließlich proklamierte Goethe, als 22-jähriger Anfänger, in seiner "Rede zum Schäkespears-Tag": "Und ich rufe: Natur, Natur! Nichts so Natur als Schäkespeares Menschen. . ."
Shakespeare und die deutsche Bühnenkunst - das ist eine ebenso fruchtbare wie uneinheitliche Wirkungsgeschichte. Zu ihren Besonderheiten gehört die unübersehbare Zahl der Übersetzungen: von Wielands Versuchen über die romantisch verklärte Schlegel-Tieck-Eindeutschung bis Erich Fried oder Peter Handke.
Die Theaterpraxis ist davon gekennzeichnet: Im Deutschen glänzt Shakespeares übersetzte Sprache meist in neuer Politur, während der englische Zuschauer nach wie vor das Original der elisabethanischen Sprache hört, in der etwa der alte hierarchische Gegensatz von Sie ("you") und Du ("thou") vorherrscht. Ein Wort nur vermag den Unterschied in Raum und Zeit zu machen, hüben wie drüben. Ein Wort: "How long a time lies in one little word! / Four lagging winters und four wanton springs / End in a word: such is the breath of Kings." ("Welch lange Zeit liegt in so kleinem Wort!/Vier träge Winter und vier wilde Maien/Münden in ein Wort, wenn Könige ihm Luft verschaffen.")
Oliver vom Hove, in Großbritannien geboren, aufgewachsen in der Schweiz und in Tirol, lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.