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"Den Tod ins Leben integrieren"

Von Beatrix Neiss

Sterbehilfe

Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben" heißt es in einem bekannten mittelalterlichen Roman des Johannes von Tepl "Der Ackermann aus Böhmen" (Ende 14. Jh). Ein Satz, der, ohne Rücksicht auf die heutigen Möglichkeiten der Medizin, die Präsenz des Todes unterstreicht. Inwieweit ein Patient dieses natürliche Recht auf Leben oder Sterben wirklich besitzt, suchte die "Wiener Zeitung" in einem Gespräch mit dem Wiener Philosophen Peter Kampits zu klären.

Wiener Zeitung: Die Notariatskammer hat einen Textvorschlag für ein rechtsgültiges Patiententestament vorgelegt. Wie sehen Sie, vom philosophischen Standpunkt aus, diese Möglichkeit, dem Patienten die Entscheidung zu überlassen, ob er unter gewissen Voraussetzungen weiter behandelt werden möchte oder nicht?

Peter Kampits: Wenn wir von der philosophischen Fragestellung ausgehen, dass wir das Sterben wie Martin Heidegger als einen "Akt des Lebens" bezeichnen, so müsste dies an dieselbe Entscheidungsfähigkeit gekoppelt sein wie das bisher gelebte Leben. Mit Ausnahme von komatösen Zuständen, wie schwere Bewusstlosigkeit usw., sollten wir die Autonomie als Grundprinzip all unseres Handelns beanspruchen. Dies sollte auch für den Sterbenden gelten.

W. Z.: Meinen Sie, dass der ethische Gedanke an gesetzliche Sätze gebunden sein sollte?

Kampits: Boshaft formuliert meine ich, dass weder der Staat noch sonst eine Institution an meinem Sterbebett etwas zu suchen hat. Ich würde eine gesetzliche Regelung befürworten, die die Entscheidungsfähigkeit dem Einzelnen überlässt. Es gibt sicher ein Recht auf Leben, aber dieses Recht auf Leben kann doch nicht - unter allen Umständen - zu einer Pflicht auf Leben gemacht werden. Man muss den Menschen Freiheitsrechte einräumen und diese respektieren.

Auch weil wir wissen, dass Ethik und Recht ja nicht unbedingt immer zusammenfallen müssen und dass ich aus ethischen Gründen im Einzelnen veranlasst werden kann, gegen eine bestehende Gesetzeslage vorzugehen.

W. Z.: Meinen Sie, dass der Entwurf der Notaritatskammer einen gangbaren Weg für die Betroffenen bietet?

Kampits: Das Problem ist die Verbindlichkeit. Als Nichtjurist weiß ich, dass gewisse Papiere ja bereits gehandhabt werden. Ich finde, man könnte diese Verbindlichkeit sicherlich durch eine gesamtösterreichische Gesetzgebung erreichen. In der Vergangenheit haben bereits namhafte Persönlichkeiten für diese Patientenrechte gekämpft und man hat die Erfahrung gemacht, dass der letzte Wille auf der einen Seite eingehalten wird, auf der anderen Seite auch wieder nicht.

W. Z.: Hängt das nicht auch davon ab, wo jemand stirbt?

Kampits: Mit dieser Frage kommen wir zum so genannten "erkalteten Tod". Diesen Begriff muss man etwas genauer beschreiben. Nach meinem Wissen sterben ungefähr 80 Prozent der Menschen in Institutionen. Die Spitäler sind teilweise sehr gering darauf vorbereitet, obwohl auch Angehörige immer öfter eingebunden werden. Zu einem meiner Ansicht nach bedauerlich geringen Prozentsatz geschieht dies in Hospizen, weil ich die Bemühungen der Palliativmedizin sehr ernst nehme und schätze. Wirklich zu Hause stirbt nur ein sehr geringer Prozentsatz. Dies hat sicherlich mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Wir haben keine Großfamilien mehr, sondern Kleinfamilien, die einem wachsenden ökonomischen Druck ausgesetzt sind. Die Betreuung eines Sterbenden ist dadurch immer schwieriger geworden. Der aktuelle politische Gedanke in Richtung Karenzierung gefällt mir sehr gut, wenngleich die Zeitbemessung sehr schwierig zu kalkulieren ist.

W. Z.: Andererseits ist der Akt des Sterbens doch immer noch ein Tabuthema.

Kampits: Deshalb bin ich auch skeptisch, weil wir im Laufe der letzten Jahrhunderte verlernt haben, mit dem Thema Sterben umzugehen. Der Tod wird tabuisiert, indem wir die Leute an Institutionen abschieben, wo sie oft sehr unbegleitet sterben. Das heißt, wir haben verlernt, den Tod ins Leben zu integrieren, und zwar als natürliches Ereignis, in etwa vergleichbar mit der Geburt, dem Eintritt des Lebens.

W. Z.: Kann man hier von einem Wertewandel sprechen?

Kampits: Sicherlich. Komischerweise war es im Mittelalter so, dass der von uns heutzutage so geschätzte rasche, jähe Tod total verpönt war. Man hat dafür gebetet, nicht unvorbereitet - beispielsweise an einem Herzinfarkt - zu sterben. Das Ganze zeigt einen Wertewandel, eine Verschiebung des ganzen Bewusstseins. Eine Ausnahme mag die teilweise noch im ländlichen Raum praktizierte Aufbahrung von Angehörigen darstellen. Im Großen und Ganzen haben wir aber den Bereich des Sterbens heute einem anonymen Betrieb übergeben.

W. Z.: Was kann eine moderne Philosophie in dieser Hinsicht bewirken?

Kampits: Mein Glaube an die Heilkraft der Philosophie ist eher gering. Aber wenn wir philosophische Traditionen betrachten, sehen wir gerade im 20. Jahrhundert sehr viele Bemühungen in diese Richtung. Es gibt einen sehr schönen Satz von Martin Heidegger: "Des Mutes zur Angst vor dem Tod" - also nicht das Ausweichen in ein "man stirbt", aber "ich noch nicht". Die Verdrängung sollte durch eine andere Bewusstmachung ersetzt werden. Man muss einsehen, dass wir - trotz aller medizinischer Fortschritte - dem Tod nicht entkommen werden. Der Wert des Lebens kann nicht vom Tod absehen. Wir geben diesem Leben in unserem Tun eine bestimmte Form der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit.

W. Z.: Sprechen Sie hier von der individuellen Entscheidungsfreiheit für das Leben, das auch das Todeserleben impliziert?

Kampits: Im Grunde ja. Auf der anderen Seite ist das ein sehr komplexes Problem und wir müssen den Zusammenhang von Freiheit und Tod sehen: Einerseits kann ich sagen, dass erst das bewusste Akzeptieren des Todes mir die Freiheit gibt, belastende Bindungen und Abhängigkeiten des Lebens abzustreifen. Auf der anderen Seite gilt der Tod auch als Vernichter der Freiheit. Im Konkreten glaube ich, dass wir diese Freiheit zum Tode als eine Möglichkeit bewahren sollten, dass man sie mitdenken kann und auch in eine Gesetzesform eingießen sollte, die dieser Freiheit Raum gibt.

W. Z.: Sind wir hier an unseren Kulturkreis gebunden?

Kampits: Ich denke schon, dass das mit unserer abendländischen Tradition zusammenhängt. Wir haben den Wert des Individuums und seine Selbstbestimmung durch das Christentum schätzen gelernt und quasi mit der Muttermilch eingesogen. Es war Platon und der Neuplatonismus, der dann ins Christentum einfloss und in weiterer Folge den Begriff der Autonomie prägte.

W. Z.: Worauf beruht die Angst der Ärzte, den letzten Willen des Patienten zu respektieren?

Kampits: In der Medizin ist seit den Griechen und Hippokrates der Tod als Feind des medizinischen Pathos zu sehen. Das Ganze ist allerdings nicht so einfach in der Realität umzusetzen. Denn: Trotzdem der Arzt durch den hippokratischen Eid verpflichtet ist, dem Tod zuwiderzuhandeln, kommt er natürlich dauernd in den Konflikt, die letze Verfügung des Patienten ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite ist im hippokratischen Eid auch das Gebot an den Arzt gerichtet: "Vom Sterbenden gehe weg." Der Umgang des Arztes mit dem Tod ist somit auch nicht aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein heraus zu nehmen, sondern ein Teil davon - und das macht die Situationen so konfliktreich.

W. Z.: Gibt es überhaupt noch einen "natürlichen Tod"?

Kampits: Wir sind durch die medizinischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte sehr weit vom Begriff des natürlichen Todes entfernt. Denn: Ist es natürlich, wenn man an den Folgen seiner Krankheit stirbt? Es gibt kaum mehr eine Krankheit, die nicht in irgendeiner Form behandelt wird. Überspitzt formuliert dürfte man keine Blinddarmoperation vornehmen, wenn man vom "natürlichen Tod" spricht. Ich glaube, dass wir heute bereits eher vom "medikalen Tod" sprechen können.

W. Z.: Ist für Sie das Thema Sterbehilfe bereits abgeschlossen?

Kampits: Ich sehe das sehr problematisch. Im Falle von Krebs plus Lungenentzündung kann ich als Arzt noch entscheiden, ob ich Antibiotika einsetze oder nicht - und hier verwendet man gerne den Begriff des natürlichen Verlaufes. Als ersten Schritt in Richtung Ernstnahme der letzten Verfügung des Patienten, also Abbruch oder Weiterführung der Behandlung, müsste es auch ein Diskussionsanstoß für die juristische Verankerung sein - und daraus folgt, dass das Thema Sterbehilfe sehr wohl ein Thema ist, das diskutiert werden muss.

Weiters weigere ich mich, die Alternative Hospiz und Palliativmedizin versus Sterbehilfe zu unterschreiben. Für mich ist beides gültig. Man sollte sowohl den Wunsch in Richtung Hospiz respektieren als auch die Äußerung dagegen. Deshalb glaube ich, dass eine Legalisierung, die nicht Gebote und Verbote enthält, meiner Ansicht nach die menschenwürdigere Alternative darstellt.

W. Z.: Was ist Ihrer Meinung nach die größte Gefahr der ökonomischen Liberalisierungspolitik?

Kampits: Das ist sicherlich das Allokationsproblem. Beispielsweise in England werden ab einem bestimmten Lebensalter bestimmte medizinische Mittel nicht mehr eingesetzt. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass eine ökonomische Selektion gegeben ist. Dies ist unter allen Umständen zu vermeiden. Allerdings wissen wir, dass in der Praxis bereits eine Zweiklassenmedizin existiert, die sich wahrscheinlich in Zukunft zu einer Dreiklassenmedizin hin entwickelt. Eine der schlimmsten Visionen wäre die Tatsache, dass der ökonomisch Stärkere länger leben kann als der ökonomisch Schwächere.

W. Z.: Gibt es einen Zusammenhang von Liebe und Tod?

Kampits: Wir dürfen nicht vergessen, dass Tod nicht nur den physischen Tod mit dem Verlust des Bewusstseins bedeutet, sondern auch das Herausfallen aus den gemeinschaftlichen und menschlichen Beziehungen. Der Philosoph Gabriel Marcel hat einmal einen Satz geprägt: "Einen Menschen zu lieben heißt, ihm zu sagen, du wirst nicht sterben."

Damit ist nicht eine Unsterblichkeit der Seele gemeint, sondern dass eben dieses Herausfallen nicht passiert. Es wird das Versprechen gegeben, dass man - auch wenn man physisch tot ist - in einer Form anwesend bleibt. Gerade im Bezug auf den Tod kann das Bewusstsein, geliebt zu werden, sehr entscheidend sein. Demgegenüber steht der sicherlich eher harte Satz Heideggers, wonach keiner dem anderen das Sterben abnehmen kann. Der Tod ist damit der Akt der äußersten Unvertretbarkeit.