Schwitzend und keuchend joggen sie durch die Gräberreihen. Bunt gekleidet und häufig mit iPod im Ohr drehen sie ihre Runden auf Friedhöfen, vorbei an verwitterten Kreuzen und moosbewachsenen Grabplatten. Oft sind es gesundheitsbewusste Frauen, wie etwa die US-Rechtsanwältin Cara Dilts, für die der aufgelassene alte nördliche Friedhof in München zur Stammstrecke geworden ist. Die 31-Jährige verweist mit einem freundlichen Achselzucken darauf, dass sie zuvor bereits auf Friedhöfen in Washington, Brüssel und Paris gelaufen sei und sich dort auch niemand daran gestört habe. Für die einen grüne Oase mitten in der Stadt, für die anderen der Ort, wo sie um ihre Toten trauern - Friedhöfe symbolisieren einen seltsamen Widerspruch: Während dort offenbar keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Tod herrschen, werden sie im persönlichen Umfeld häufig ausgeblendet.
Anders als früher haben viele Menschen heute noch nie einen Sterbenden oder Toten gesehen und sind deshalb schlicht überfordert, wenn sie plötzlich damit konfrontiert werden. Diese Erfahrung muss auch Torsten Körner machen. Der 46-jährige Schriftsteller hat über mehrere Jahre hinweg eine alte und kranke Dame ehrenamtlich begleitet, doch als sie im Sterben liegt, erträgt er den Anblick nicht. "Sie atmete schwer, ihr Brustkorb hob und senkte sich, als ob eine große Last auf ihm liege. (. . .) Ich wagte nicht, sie zu berühren." Körner rennt vor diesem Sterben davon.
Zweifellos ist die Angst vor der Endlichkeit, der eigenen wie der naher Verwandter, etwas Natürliches. Und doch verhalten sich viele im Angesicht des Todes erstaunlich irrational, konstatiert Gian Domenico Borasio, einer der führenden Palliativmediziner Europas, einem medizinischen Gebiet, das sich um Schwerstkranke und Sterbende kümmert. Der Neurologe an der Universität Lausanne hat ein Buch mit dem Titel "Über das Sterben" verfasst, in dem er praktische Auskünfte erteilt, um die Angst vor dem Ende abzubauen - und sei es nur "um ein paar Millimeter".
Viele wünschen sich, sanft zu entschlafen oder aber, bei guter Gesundheit und vor allem rasch, etwa einem Herzinfarkt, zu erliegen. Das aber geht laut Borasio nur für rund 5 Prozent der Bevölkerung in Erfüllung. Gerade in einer Gesellschaft, in der 50 bis 60 Prozent einem Krebsleiden erliegen und künftig 30 bis 40 Prozent sogar einen langsamen Tod, etwa durch Demenz, sterben, kommt noch die Angst vor dem Ausgeliefertsein und dem Einsatz der sogenannten Apparatemedizin in der Sterbephase hinzu. Der Medizinprofessor nimmt diese Ängste ernst und gibt unumwunden zu, dass zahlreiche Ärzte nicht wüssten, dass es so etwas wie einen natürlichen Sterbeprozess gibt und dass ein Tod aus "Altersschwäche" in der modernen Medizin gar keinen Platz mehr hat.
Borasio plädiert demgegenüber für die Wiederentdeckung einer Haltung, die er als "liebevolles Unterlassen" am Lebensende bezeichnet, für die zum Teil eher "Mut" als Handeln erforderlich sei und dem Arzt somit vielmehr die Funktion einer "Hebamme für das Sterben" zukomme. Denn beim Sterben, so der Italiener, verhält es sich ähnlich wie bei der Geburt: "Beide laufen in den meisten Fällen am besten ab, wenn sie durch ärztliche Eingriffe möglichst wenig gestört werden." Und er fügt gleich hinzu, dass es wie auch bei der Geburt viele Fälle gebe, bei denen medizinische Intervention nötig sei, und darüber hinaus einige wenige Fälle, in denen eine hochspezialisierte Palliativmedizin gebraucht werde. Neben der Schmerztherapie, die nur 15 Prozent der Palliativbetreuung ausmache, und vielen anderen Symptomen wie etwa der Atemnot, die von Patienten wie Angehörigen schlimmer als selbst stärkste Schmerzen empfunden werde, sei die psychosoziale und spirituelle Betreuung unverzichtbar.
Die Palliativ-Pionierin Cicely Saunders fand dafür die Worte: "Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben." Die Britin eröffnete 1967 mit dem St. Christopher’s Hospice in London die erste moderne stationäre Hospizeinrichtung weltweit. Inzwischen gibt es in vielen Städten Hospize und Personal, das speziell für diese ausgebildet wird. Neben der Idee stationärer Einrichtungen wird heute jedoch zunehmend versucht, Sterbende in ihrem eigenen Zuhause und damit in vertrauter Umgebung zu betreuen.
Wird das Sterben zu einer unausweichlichen Realität, stellt sich die Frage nach der Lebensbilanz. Was, wenn ich mein Leben vergeudet habe, nicht meinem Herzen gefolgt bin, wie es der vor wenigen Monaten verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs forderte? Ursula Schubert, palliative Atemtherapeutin im Münchener Christopherus-Hospiz, hat die Erfahrung gemacht, dass es erstaunlich vielen Menschen gelinge, "sich mit ihrem Leben zu versöhnen". Zudem verschieben sich offenbar die Prioritäten deutlich in Richtung Altruismus, wie eine Studie des Psychotherapeuten Martin Fegg belegt. "Die Ergebnisse zu den Wertvorstellungen Schwerstkranker legen nahe, dass die Menschen im Angesicht des Todes erkennen, worauf es wirklich ankommt." Gerade in der Sterbephase, wenn es nicht mehr viel zu sagen gibt, "ist Berührung - wenn auch nicht für alle - das, was noch wichtig ist", hat Schubert beobachtet. "Große Dankbarkeit" spüre sie bei ihren Patienten für die wohltuende Berührung durch eine Hand.