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Den Tagen mehr Leben geben

Von Alexandra Grass

Sterbehilfe

Die Patienten profitieren von einem frühen Beginn der Palliativbetreuung.


Wien. Es gibt jene Menschen, die immer weiter auf eine vielversprechende Therapiemöglichkeit hoffen und letzten Endes im Kampf gegen den Krebs regelrecht fallen. Manche verschließen die Augen vor der Realität und verweigern jegliches Gespräch über das nahende Lebensende. Andere wiederum planen detailreich, welche organisatorischen Maßnahmen nach ihrem Ableben zu treffen sind und lassen sich auf ihrem letzten Wegstück mit allen Sinnen aktiv begleiten. Oft sind es genau diese Menschen, die, wenn der Tag gekommen ist, friedlich hinübergehen - sie verwelken wie eine Blume.

Die Patiententypen können unterschiedlicher nicht sein - manche fallen im Kampf, andere verwelken wie eine Blume.
© © Carol Sharp/http://www.flowerphotos.com/Eye Ubiquitous/Corbis

"Alle wollen leben"

So unterschiedlich die Patiententypen in einer Palliativeinrichtung auch sind, eines eint sie dennoch: "Alle wollen leben. Denn das Leben einfach aufzugeben, ist nicht so leicht", beschreibt Herbert Watzke, Leiter der Palliativstation am AKH Wien und Inhaber des ersten Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Medizinischen Uni Wien, wo er seit 2007 dieses noch junge Forschungsfeld vorantreibt, die Situation. Und doch gibt es einige, die sich bewusst für den Tod entscheiden und sowohl Medikamente als auch Nahrung strikt verweigern.

Die Palliativmedizin selbst ist vielfach noch immer ein unbekanntes Wesen und wird zumeist mit medizinischer Betreuung unmittelbar vor dem Tod in Verbindung gebracht. Ein wesentlicher Teil der Aufgabe besteht in der Betreuung unheilbar Kranker. 85 Prozent der Patienten sind von Krebs betroffen. Begleitet werden aber auch Menschen mit amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, die Muskelschwäche und -schwund zur Folge hat, sowie Menschen mit chronischen Nierenerkrankungen oder im Endstadium einer sogenannten Raucherlunge.

Die Betreuung kann sich auch über Jahre erstrecken. Ziel ist es, dem Patienten ein beschwerdefreies Dasein zu ermöglichen. Immer mehr Wert wird auf die sogenannte Early Palliativcare (frühzeitige Palliativbetreuung) gelegt. Denn bei etwa 50 Prozent der Krebspatienten wisse man schon bei der Diagnosestellung über die Unheilbarkeit der Erkrankung, betont Watzke im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Nicht um jeden Preis

Grundsätzlich versteht man unter Palliativmedizin die "aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt", wie es die Weltgesundheitsorganisation definiert. Im Vordergrund der Behandlung steht nicht die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis, sondern die Lebensqualität. Es gilt der Grundsatz: Den verbleibenden Tagen Leben geben.

Plattform der Wahrheit

Wie sehr Patienten von einer solchen Betreuung profitieren, zeigt eine US-Studie, die vor zwei Jahren erstaunliche Ergebnisse hervorbrachte. Eine Patientengruppe wurde dabei ausschließlich von Onkologen betreut und mit notwendigen Therapien versorgt. Die andere Gruppe wurde zusätzlich von einem Palliativteam umsorgt. Das Resultat: Letztere hatten eine bessere Lebensqualität, weniger aggressive Therapien und lebten zudem um zwei Monate länger. Dies hat das Feld der Palliativbetreuung zuletzt revolutioniert.

"Man muss mit den Patienten über ihren Lebensweg sprechen" - eine End-of-life-discussion führen - und ihnen eine Plattform der Wahrheit anbieten, sofern sie dies auch wollen, betont Watzke. Denn die Ärzte können meist gut einschätzen, wie das Lebensende aussehen wird, die Betroffenen selbst wissen es nicht oder können es sich nicht vorstellen.

Für den Arzt bedeutet das, sich Zeit nehmen - nämlich dann, wenn der Patient dazu bereit ist -, was im Spitalsalltag eine große Herausforderung darstellt. "Es gibt den Moment des günstigen Augenblicks für solche Gespräche, den muss man spüren und nützen", erklärt der Mediziner.

Jeder Patient ist dankbar für das Gespräch und das Vertrauen zum Pflegeteam wächst. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Angst und Depressionen in Folge einer solchen End-of-life-discussion abnehmen, denn "der Mensch will immer eine gewisse Planungssicherheit haben".

Die Gefahr, dass man als Arzt oder Pfleger emotional mithineingezogen wird, besteht immer. Doch "wenn einem das Leid des anderen betroffen macht, dann geht man selber mit dem Patienten unter", zitiert Watzke Sigmund Freud. Sobald es überspringt, kann man nicht mehr helfen. Hier bedarf es vor allem eines guten Teams, das die Betroffenen in solchen Situationen auffängt. Die umfassende Betreuung der Patienten erfordert ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeitern, Psychologen, Physiotherapeuten, Diätologen und Seelsorgern.

Watzke fordert einen rascheren Ausbau der Palliativmedizin in Österreich. Ein vom Parlament abgesegnetes Bestreben liege weit hinter dem Plansoll. Zudem treibt er die universitäre Ausbildung voran. Seit 2007 widmet sich an der Medizinischen Universität Wien ein eigener Lehrstuhl diesem sensiblen Bereich der Medizin.

Stressniveaus erforscht

Ein aktuelles Projekt ist die Erforschung des Stressniveaus der Patienten mittels der Herzratenvariabilität (HRV). Das ist jene Fähigkeit des Organismus, die Frequenz des Herzrhythmus zu verändern. Anhand des Verhältnisses von Sympathikus und Parasympathikus lässt sich - ähnlich einem EKG - das Stressniveau ermitteln. Der Sympathikus hat eine allgemein aktivierende Funktion und reagiert sehr stark bei Schmerzattacken. Der Parasympathikus hingegen zielt auf die Beruhigung und Regeneration des Körpers ab. Wirkt ein Schmerzmittel, kommt es in Folge zu einem entspannten Atemrhythmus, was sich im HRV am Wert des Parasympathikus ablesen lässt.

Der Vorteil dieser Methode: Man kann herausfinden, wie sich der Patient fühlt. Denn in den letzten Lebenstagen sind die Betroffenen oft bewusstseinsgetrübt oder gar bewusstlos, desorientiert und unruhig. Die HRV könnte dazu beitragen, auch hier eine Erleichterung erreichen zu können. Zur Anwendung kommt etwa auch Musiktherapie, die, wie an der HRV ablesbar, viel zur Harmonisierung beitragen kann.

Auch der Placeboeffekt darf nicht außer Acht gelassen werden. 50 Prozent der Wirksamkeit der Schmerztherapie beruhen auf ihm, so Watzke. Häufig wirkt alleine die Anwesenheit - hier gilt die Devise: Hauptsache, es wirkt.

Die Vorsorgevollmacht

Problematisch findet Watzke die Patientenverfügung, mit der bestimmte medizinische Behandlungen vorweg für den Fall abgelehnt werden können, dass man nicht mehr entscheidungsfähig ist. Sie sei zwar als Instrument der Förderung der Patientenautonomie begrüßenswert, aber in der Praxis sei es schwierig vorauszusehen, wie man sich im Fall einer schweren Erkrankung verhalten würde.

Praktikabler sei für viele Palliativpatienten die sogenannte Vorsorgevollmacht. Ziel ist es, dass der Betroffene selbst entscheidet. Für den Fall, dass dies nicht mehr möglich ist, sollte schon im Vorfeld ein Mensch des Vertrauens dazu bevollmächtigt werden, die letzte Entscheidung im Sinne des Patienten zu treffen. Gibt es eine solche Vollmacht nicht, wird mit Hilfe der Angehörigen und Pflegenden versucht, den mutmaßlichen Patientenwillen zu erheben, wonach sich auch das Gesetz richtet. Die Letztentscheidung fällt der Arzt - im Zweifel für das Leben.