"Wiener Zeitung": Sie wurden vorige Woche zum Nachfolger von Herbert Watzke an der Spitze der Österreichischen Palliativgesellschaft gewählt. Was werden Sie anders machen als Ihr Amtsvorgänger?

Harald Retschitzegger: Natürlich bringt jeder eine andere Note ein, aber ich werde nicht viel anders machen, weil wir ja schon sehr gut zusammengearbeitet haben. Man merkt, dass das Interesse in der Fachwelt sehr groß ist. Neben der Bewusstseinsbildung ist sicher die Anerkennung eines eigenen Facharztes für Palliativmedizin ein wichtiges Anliegen.
Der deutsche Palliativmediziner Gian Domenico Borasio hat mir im Interview erklärt, dass nach wie vor am Lebensende viele Fehler geschehen - etwa künstliche Ernährung für Demente am Lebensende oder dass Sterbende Sauerstoff und Flüssigkeit erhalten. Kommt so etwas in Österreich noch oft vor?
Wie oft das passiert, kann ich nicht sagen. Aber klar ist, dass die Palliativmedizin in Österreich relativ jung ist und wir gerade erst dabei sind, eingefahrene Strukturen zu durchdringen. Damit ist klar, dass nicht alle Ärzte mit der letzten Lebensphase absolut kompetent umgehen. Hier gibt es sicher noch etwas zu tun.
Wie kann man Übertherapie am Lebensende vermeiden?
Wesentlich ist, dass wir frühzeitig mit den Patienten Gespräche führen und sehr früh wissen, was sie wollen und was nicht. Man muss sich sehr an der Selbstbestimmung der Patienten orientieren. Sehr wichtig sind auch eine gute Ausbildung, Kompetenz in der Gesprächsführung und der Mut, manchmal auf etwas zu verzichten, wenn dies im Sinne des Patienten ist. Wir leben immer noch in einem System, in dem es sicherer ist, zu viel zu tun, als auf etwas zu verzichten.
Ist es eine Kränkung des Arztes, wenn er nichts mehr für den Patienten tun kann?
Ich glaube schon, dass es bei manchen Kollegen ein Gefühl von Hilflosigkeit auslöst. Man kann Krankheiten lange Zeit sehr kompetent behandeln. Angesichts des nahenden Sterbens ist bei manchen die Kompetenz dann aber doch nicht so ausgeprägt - sie fühlen sich ohnmächtig und machen dann vielleicht das Falsche.
Sie haben einmal gesagt, dass viele Ärzte noch glauben, es sei ihre Verpflichtung, alles medizinisch Mögliche zu unternehmen, auch wenn es letztendlich aussichtslos ist.
Das Wichtige ist, ehrlich mit dem Patienten darüber zu sprechen, wenn es zu Ende geht. Man weiß mittlerweile, dass sich die Patienten diese End of Life Discussions wünschen und dass dadurch die Betreuung verbessert wird. Es werden dann weniger häufig aggressive Therapien am Lebensende durchgeführt, die keinen Nutzen für Patienten haben und hohe Kosten verursachen.
Es gibt in Österreich Masterprogramme zu Palliativmedizin, aber es gibt keinen Facharzt - warum?
Wir brauchen einen Facharzt für Palliativmedizin, so wie es in den meisten europäischen Ländern üblich ist. Manche sehen das kritisch, weil sie der Meinung sind, sie können die Palliativmedizin ohnehin nebenbei miterledigen. Wir brauchen die Ärztekammer dafür und das Gesundheitsministerium. Es gab bereits Gespräche, und die Perspektiven sind nicht so schlecht. Daneben sollte Palliativmedizin Teil der verpflichtenden Fortbildung werden. In der universitären Ausbildung ist es bereits verankert. Allerdings sollte es auch ein Prüfungspflichtfach für Studierende werden.
Im Jahr 2010 hätte der abgestufte Palliativ- und Hospizversorgungsplan, der etwa die Versorgung mit Betten und mobilen Palliativteams sicherstellen soll, umgesetzt sein sollen. Heute sind in manchen Bereichen gerade 30 Prozent erfüllt. Fehlt es der Politik an Willen?
Das größte Problem ist das Hin und Her zwischen Bund und Ländern und zwischen Gesundheits- und Sozialsystem. Jemand - am besten der Bundeskanzler - sollte sich dahinterstellen und sagen, dass Österreich ein Land sein soll, wo Menschen klarerweise gut bis zum Lebensende betreut werden.
Die Caritas hat erst unlängst wieder die Forderung nach einer Finanzierung aus einer Hand wiederholt. Wo soll das sein?
Es ist notwendig, dass jemand sich eindeutig dafür zuständig erklärt. Das kann das Gesundheitsministerium sein. Aber dieses ständige Hin und Her muss aufhören.
Die Bevölkerung altert, Demenz wird zum Massenphänomen. In vielen stationären Pflegeheimen gibt es keine eigenen Palliativbetreuer. Wie kann man rechtzeitig auf diese Entwicklung reagieren?
Wir brauchen nicht unbedingt spezielle Einrichtungen in Pflegeheimen. Aber wir brauchen jedenfalls eine Grundkompetenz in allen Strukturen.
In vielen Pflegeheimen gibt es nicht einmal einen eigenen Arzt. Wie soll da Grundkompetenz entstehen?
Das Pflegepersonal ist meistens sehr gut ausgebildet, auch viele der betreuenden Hausärzte. Natürlich wäre es wünschenswert, dass die Pflegeheime auch eigene Ärzte anstellen, die eine spezielle Ausbildung haben. Das würde das System billiger machen, weil dadurch die Betreuungsqualität steigt und unnötige Krankenhauseinweisungen verhindert werden.
Die Sterbehilfe-Debatte wurde ausgelöst durch die Idee der Koalition, eine Verankerung des Sterbehilfeverbots in der Verfassung zu prüfen. Halten Sie das für sinnvoll?