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". . . oder wir gehen unter"

Von Andreas Lorenz-Meyer

Tschernobyl
Komplexitätsforscher Klaus Mainzer.
© Foto: Technische Universität München

"Wiener Zeitung": Herr Mainzer, der globale Energieverbrauch steigt laut Internationaler Energie Agentur bis 2035 um ein Drittel. Wohin führt der wachsende Energiehunger?

Klaus Mainzer: Das hat sich der russische Astrophysiker Nikolai Kardashev schon vor 50 Jahren gefragt. Er teilte künftige Zivilisationen nach den Möglichkeiten ihres Energieverbrauchs ein. Seine Typ-1-Zivilisation beherrscht die Energie ihres Planeten, genauer die konsumierbare, die durch den Bruchteil des einfallenden Lichts der Sonne bestimmt wird. Bei der Erde können wir da von rund 1017 Watt ausgehen.

Eine 1 mit 17 Nullen. Wie kommt diese Zahl zustande?

Gemeint ist nicht nur die Sonnenenergie, die mittlerweile durch Solarstrom und Photovoltaik gewonnen wird. Fossile Brennstoffe sind ja genauso in toten Pflanzen gespeicherte Sonnenenergie. Hinzu kommen Wind, Wetter und Meeresströmungen, die auch erst durch Sonnenenergie möglich werden. Eine Typ-1-Zivilisation beherrscht alle diese Energieformen.

Wie weit ist die Menschheit davon momentan entfernt?

Wir zapfen die Energie auf der Erde zwar in allen möglichen Speicherformen an. Aber Wind und Wetter beherrschen wir noch lange nicht. Die Menschheit kann derzeit als Typ-0,7-Zivilisation bezeichnet werden.

Bringt uns die Kernfusion weiter? Manche setzen große Hoffnungen in die Technik.

In der Plasmaphysik haben wir die Fusionsenergie der Sonne bereits in Formeln gepackt. Aber der Fusionsreaktor lässt noch auf sich warten. Nach Kardashev wäre er der erste Schritt hin zur Typ-2-Zivilisation. Diese beherrscht die Sonnenenergie, etwa 1027 Watt. Allerdings wird sie nicht nur passiv mit Solarzellen aufgefangen. Der amerikanische Physiker Freeman Dyson beschreibt eine Zivilisation, die eine gigantische Kugel um ihren Heimatstern konstruiert, um damit seine gesamte Strahlung zu absorbieren.

Klingt nach Science Fiction.

Darum können wir uns die Kardashevsche Skala auch nur in Science-Fiction-Bildern vorstellen. Die Typ-1-Zivilisation wäre die Welt von Flash Gordon. Dort nutzt man sämtliche planetarischen Energiequellen, selbst Wind und Wetter sind vollständig kontrollierbar. Die Typ-2-Zivilisation entspricht der Planetenföderation in Star Trek. Die hat hundert nahe gelegene Sterne kolonialisiert.

Hatte Kardashev auch eine Typ-3-Zivilisation?

Ja. Diese galaktische Zivilisation ist vergleichbar mit dem Impe- rium im "Krieg der Sterne". Sie verbraucht die Energie von Milliarden von Sternen in der Größenordnung von 1037 Watt.

Lässt sich diese Zivilisationsskala auf die Gegenwart beziehen?

Kardashev stellte sie zu einer Zeit auf, in der Fortschrittsoptimismus keine Grenzen kannte. Es war die Zeit von Sputnik und Mondlandung. Dann kamen Ölkrise, Umweltbewegung, die Grenzen des Wachstums, Tschernobyl, Fuku-shima. Dadurch wird Kardashevs kosmische Skala nicht falsch. Nur erweist sich Energieversorgung als schwieriger und komplexer, als er es sich damals vorstellte.

Ansätze, Energie auf andere Art zu erzeugen, gibt es schon heute. Generatoren nutzen Reibungsenergie, um Strom zu erzeugen. Häuser bekommen Algenfassaden verpasst. Warum denkt sich der Mensch diese Techniken aus?

Letztlich sind es Neugierde und Intelligenz, die unsere Spezies in der Evolution so weit gebracht haben. Hätten wir nicht immer wieder Lösungen gefunden, wären wir vermutlich schon längst von diesem Erdball verschwunden. Aber Intelligenz beschränkt sich nicht auf technische Innovation. Um komplexe Staaten und Zivilisationen zu organisieren, braucht es auch soziale Intelligenz.

Was bringt die hervor?

Zum einen soziale Innovationen. Die verbinden Technik mit den sozialen Lebensbedingungen der Menschen, ihrer Infrastruktur und Mobilität. Zum anderen ökologische Innovationen, etwa beim Energieverbrauch. Ohne ökologische sind soziale Innovationen nicht zu haben. Am Ende läuft es auf eine Weltzivilisation hinaus, die sich im Einklang mit den Lebensbedingungen dieses Planeten befindet - oder wir gehen unter.

Sind Sie optimistisch, dass wir diesen Einklang herstellen?

Lösungsgarantien, wonach am Ende alles gut wird, gibt es nicht. Aus der Mathematik kennen wir komplexe Algorithmen, die keinen Beweis für die Existenz einer Lösung anbieten. Um wie viel mehr trifft diese Unsicherheit erst auf die vielfältigen Lernprozesse der Menschheit zu?

Macht sich die Menschheit etwas vor, wenn sie glaubt, ein selbst geschaffenes Problem wie der Klimawandel ließe sich technisch lösen?

Falsche Ideologien suggerieren, es gäbe die heile Natur, und dann kämen die Menschen, die wie Goethes Zauberlehrling alles durcheinanderbringen. Aber es geht nicht nur um selbst geschaffene Probleme, die ohne Zweifel uns und die Natur belasten. Wir dürfen den langfristigen natürlichen Klimawandel nicht vergessen. Der unterliegt einer Dynamik, die keineswegs menschenfreundlich ist. Wenn ich an die kleinen Eiszeiten in den vergangenen Jahrhunderten denke: Unter welchen elenden Bedingungen die Überlebenden da vegetieren mussten, und zwar vor der Industrialisierung. Kommende Generationen benötigen viel Wissen und Können, um dem natürlichen Klimawandel zu begegnen, selbst wenn es uns gelingen sollte, die Folgen des industriell verursachten Klimawandels zu bremsen.

Welche Rolle spielt dabei das Klimasystem der Erde?

Wir haben es mit einem nichtlinearen dynamischen System zu tun. Nichtlinearität bedeutet, dass sich kleine Ursachen häufig scheinbar nebensächlich zu großen Veränderungen des Gesamtsystems aufschaukeln und es destabilisieren. Das kennen wir nicht nur vom Klima, sondern auch von Wirtschaftssystemen.

Welche Faktoren wirken sich in diesem System kurzfristig aus, welche langfristig?

Zu den kurzperiodischen Klimafaktoren gehören die Veränderungen der Meeresoberflächentemperatur, aber auch Vulkanausbrüche, deren Staub die Atmosphäre belastet. Zu den längerfristigen Einflüssen zählt vor allem die Energie der Sonne, also die Zukunft des Zentralsterns unseres Planetensystems, dessen Energie wir noch nicht oder vielleicht nie kontrollieren können. Was zu untersuchen ist: In welchem Ausmaß auch der von Menschen verursachte Treibhauseffekt den längerfristigen Klimawandel beeinflusst.

Wie wichtig sind sogenannte intelligente Techniken?

Wir sind auf intelligente Lösungen angewiesen. Setzen wir etwa auf Wind und Sonne, machen wir uns von den Schwankungen von Wind und Wetter abhängig. Um die Energieversorgung trotzdem zu sichern, muss Energie klug verteilt werden - durch Smart Grids, die Wetterschwankungen automatisch ausgleichen. Fährt etwa der Windpark zurück, steht das Blockheizkraftwerk bereit. Die Gesamtversorgung ist solcherart unabhängig von der Wetterlage - und Energiedinosaurier wie die Kohlekraftwerke müssen nicht mehr eingeschaltet werden.

Als Säule des Klimaschutzes wird die Energieeffizienz bezeichnet. Was fehlt der Wirtschaft in diesem Bereich noch?

Wir Menschen müssen zwar die ethischen und politischen Normen der Energieversorgung vorgeben. Aber realisieren lässt sich Energieeffizienz nur durch präzise Messtechnik und Mathematik. Es darf nicht sein, dass der Energieverbrauch von Industriemaschinen unbekannt ist. Tatsächlich benötigen wir sogar die Messwerte der einzelnen Anlagekomponenten, um ein effizientes Energiemanagement hinzubekommen.

Wie sieht die Energiewende im Heizungskeller aus? Stehen dort künftig Brennstoffzellen?

Überall, wo es Gasanschluss gibt, könnten sie zum Einsatz kommen. Technisch ist die Kraft-Wärme-Kopplung ja eine geniale Idee. Wasserstoff und Sauerstoff werden chemisch miteinander verbunden, um Wasser, Wärme und Strom entstehen zu lassen. Damit lässt sich ein Haus sowohl heizen als auch mit Elektrizität versorgen. Jeder könnte sein kleines Kraftwerk im Keller haben: umweltfreundlich, sicher, effizient und unabhängig von Stromtrassen.

Klaus Mainzer erforscht als Wissenschaftsphilosoph die Grundlagen und Zukunftsperspektiven von Wissenschaft und Technik. Er ist durch seine Arbeiten im Bereich der Komplexitätsforschung bekannt geworden. Seit 2008 hat der 66-Jährige den Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen Universität München inne und gründete zudem das Munich Center for Technology in Society. Dieses Institut widmet sich über die Fakultätsgrenzen hinweg den humanwissenschaftlichen Aspekten der Technikwissenschaften. Mainzer hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt: "Leben als Maschine?" (2010); "Die Berechnung der Welt: von der Weltformel zu Big Data" (2014).

Andreas Lorenz-Meyer, geboren 1974, lebt als freier Journalist in Hamburg und schreibt über wissenschaftliche Themen, speziell Erderwärmung, Naturschutz und Internet.