Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Der Reaktormantel explodierte, Trümmer und radioaktives Material wurden nach außen geschleudert, eine nukleare Wolke breitete sich über weite Teile Europas aus. Das Umfeld des Kraftwerks ist bis heute Sperrgebiet. 2011 - dem Jahr des Nuklearunfalls von Fukushima - jährte sich die Katastrophe zum 25. Mal.
Doch ein breiter wissenschaftlicher Konsens über die Folgen von Tschernobyl besteht selbst nach dieser Zeit nur in wenigen Punkten.
"Es gibt keine offizielle Statistik - das ist das Problem", erklärt Sebastian Pflugbeil, der Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz (GfS). Experten gehen davon aus, dass mittlerweile über 30.000 wissenschaftliche Beiträge zu den Folgen der Katastrophe existieren, die meisten davon in slawischer Sprache.
Einigkeit herrscht bisher darin, dass mehrere Dutzend der Aufräumarbeiter (Liquidatoren) direkt an der Strahlenkrankheit gestorben sind. Bei den Überlebenden weisen mehrere Studien auf eine Zunahme von Grauem Star, Hirnschäden, Leukämie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hin. "Das sind Menschen, die multimorbide sind", sagt Angelika Claußen von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Auch ein Zusammenhang zwischen Tschernobyl und dem Anstieg von Schilddrüsenkrebs - insbesondere bei den damaligen Kindern der Region - ist unstrittig. Als Auslöser gilt radioaktives Jod aus der Milch belasteter Kühe.
Wieviele Opfer gab es wirklich?
In der Frage, wie viele Opfer das Unglück forderte, klaffen die Angaben jedoch weit auseinander. 2005 wurde hierzu der wohl bekannteste Report von internationaler Seite veröffentlicht. Das Tschernobyl-Forum - angeführt von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - geht darin davon aus, dass es "weniger als 50 Tote" gibt, die direkt in Verbindung mit dem Unfall stehen. Schätzungsweise 4.000 Menschen würden infolge der Katastrophe an Krebs sterben. Diese Zahl, die aus einer Pressemitteilung von IAEA und WHO stammt, wurde weltweit in den Medien aufgegriffen.
Umweltschützer weisen jedoch darauf hin, dass der Bericht eigentlich auf ganz anderen Zahlen fußt. Die Gesundheitsexperten des Forums - die WHO-Gruppe "Health" - hätten für den Report eine Quelle aus dem Jahr 1996 herangezogen. In dieser werden zwar tatsächlich rund 4.000 Krebstote (genau: 3.960) unter den Liquidatoren, den Evakuierten und den Bewohnern der Kontrollzone angegeben. Zusätzliche 4.970 Menschen, die an Krebs starben, werden aber auch in anderen kontaminierten Gebieten gesehen. Diese Schätzung ist laut WHO-Gruppe "Health" jedoch "außerordentlich unsicher". Wird diese Zahl dazugezählt kommt man auf 8.930 Krebstote aus Russland, Weißrussland und der Ukraine.
Nicht nur wegen des Zahlen-Wirrwarrs sorgte der IAEA/WHO-Bericht bei vielen Atomkritikern für Entrüstung. "Ich war außer mir vor Wut", erinnert sich Alexej Jablokow von der russischen Akademie der Wissenschaften. Der ehemalige Umweltberater von Boris Jelzin geht von weitaus größeren Opferzahlen durch Tschernobyl aus: nämlich 1,44 Millionen Toten weltweit, wenn vorgeburtliche Todesfälle miteinbezogen werden sogar von 1,6 Millionen.
Jablokow bezweifelt zudem, dass die WHO beim Thema Tschernobyl unabhängig forschen kann. Durch eine Resolution aus dem Jahr 1959 sei die Organisation bei allen Projekten zur Radioaktivität an die IAEA gebunden - eine Behörde, deren Hauptaufgabe darin besteht, die friedliche Nutzung der Atomenergie zu fördern.
Von mehreren Seiten wird gefordert, dass die Resolution namens WHA 12-40 aufgelöst wird, etwa von der Europaabgeordneten Rebecca Harms (Grüne). Die Politikerin hatte als Reaktion auf den IAEA/WHO-Bericht, Wissenschafter mit einer Gegenanalyse beauftragt. In dem 2006 veröffentlichten TORCH-Report (The Other Report on Chernobyl) ist von bis zu 60.000 Krebstodesfällen die Rede.
Drei Zahlen, drei Berichte
8.930, 60.000, 1,44 Millionen: Drei Zahlen, drei Berichte. Doch warum sind die Schätzungen so unterschiedlich? Zum einen fehlt es an vielen Informationen, etwa darüber, wie viel Radioaktivität beim Unfall tatsächlich frei gesetzt wurde. Zum anderen ist der Nachweis, dass Krebs durch die zusätzliche Strahlung entstanden ist, fast unmöglich. "Niemand kann wirklich sagen, ob es wirklich daran liegt", räumt auch der Biologe Jablokow ein.
Am allermeisten schwanken die Zahlen jedoch durch unterschiedliche Annahmen dazu, bei welcher Strahlendosis Schäden auftreten. Einige Forscher gehen davon aus, dass jede noch so kleine Menge an Radioaktivität gesundheitliche Folgen hat und beziehen das auch in ihre Schätzungen mit ein. Die UN-Organisation UNSCEAR - auch ein Mitglied des Tschernobyl-Forums - schrieb dagegen erst kürzlich, dass sie aufgrund "inakzeptabler Unsicherheiten" keine Modelle zu den Auswirkungen der Niedrigstrahlung berücksichtigen. (APA/dpa)
Landkarte von StepMap