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Der Sarkophag im Naturschutzgebiet

Von Roland Knauer aus der Ukraine

Tschernobyl
Fluchtartig verlassen: der Kindergarten in Pripjat. Foto: Knauer

Ein Besuch der evakuierten Stadt Pripjat, nur drei Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt. | Einige sind in die Sperrzone zurückgekehrt.


Gerade vorher noch waren die Besucher direkt vor dem explodierten Block 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl gestanden. Hatten mit dem Schichtleiter diskutiert, der in der Unglücksnacht vom 26. April 1986 den Reaktorbetrieb verantwortete - und dafür später ins Gefängnis wanderte. Waren durch verlassene Landschaften und Dörfer gefahren, in denen der Wind Schneewolken aufwirbelte. Unterhielten sich mit Menschen, die in einem der nach Karbol stinkenden Krankenhäuser in Weißrussland auf ihre Behandlung warteten, weil die Kernreaktor-Katastrophe Tumore in ihren Schilddrüsen entstehen ließ.

Doch erst in dem Kindergarten der Stadt Pripjat, drei Kilometer vom Tschernobyl-Reaktor entfernt, erstickt der Kloß im Hals jedes Wort, weil sie nun die Dramatik dieser Tage so richtig begreifen. Nur die Augen der Besucher bewegen sich, starren auf Puppen, die mit verrenkten Gliedmaßen auf Kinderbetten liegen. Schauen auf halbgeöffnete Schubladen, aus denen Kinder-Zeichnungen lugen.

Techniker waren blind

Am 27. April 1986 informierten die Behörden die 45.000 Bewohner der Stadt Pripjat um 11 Uhr Vormittag, dass sie ihre Stadt verlassen müssen. Die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich, schließlich hatten die Einwohner 33 Stunden zuvor die Explosion am Horizont gesehen. Um 14 Uhr begann die Evakuierung mit 1200 Bussen, zweieinhalb Stunden später war die Stadt leer. In drei Tagen, hieß es, könnt ihr zurückkehren. Aus den Tagen wurden Jahre und heute beweist eine Birke auf der Tartanbahn des nahen Stadions, dass ein Vierteljahrhundert vergangen ist. Pripjat ist noch immer menschenleer, die Stadt gehört zum radioaktiven Sperrgebiet.

In der Nacht vom 25. auf den 26. April sollte man den vierten Block des aus vier Kernreaktoren bestehenden Kraftwerks für Wartungsarbeiten abschalten. Gleichzeitig sollte ein längst fälliger Test durchgeführt werden: Liefert die auslaufende Turbine des abgeschalteten Kraftwerks genug Leistung für die Kühlpumpen, bis das Notstromaggregat anspringt?

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete der Reaktor mit einer zu niedrigen Leistung. Das ist bei Reaktoren dieses Bautyps riskant, da sie mit Wasser die Brennstäbe kühlen, während Graphit die Kernreaktion aufrechterhält. Fällt die Wasserkühlung aus, kann die Kernreaktion in Ausnahmesituationen rapide stärker werden. Genau das passierte in der Unglücksnacht um 1.23 Uhr und 44 Sekunden. Von weniger als zehn Prozent der normalen Leistung schnellte die Kernreaktion innerhalb von Augenblicken auf das 470-Fache hinauf. Die Explosion von Tschernobyl 4 hob die 3000 Tonnen schwere Deckplatte über dem Reaktor, zerstörte das Reaktorgebäude und ließ schlagartig alle Messinstrumente ausfallen. Ingenieure und Techniker waren praktisch blind. Erst ein Schritt vor die Tür zeigte ihnen das Ausmaß der Katastrophe.

Glühende Reaktorruine

In nur mit Wasser betriebenen Reaktoren, wie sie in Westeuropa laufen, könnte eine solche Katastrophe nicht passieren, betont die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln. In ihnen kühle das Wasser nämlich nicht nur den Reaktor, sondern es halte auch die Kernreaktion aufrecht. Ohne Kühlwasser ginge der Reaktor daher einfach aus. Die radioaktiven Verbindungen können zwar eine Kernschmelze auslösen, eine Kernexplosion wie in Tschernobyl könne aber nicht passieren. Auch die Explosionen in den japanischen Fukushima-Reaktoren seien chemische Reaktionen gewesen: Die nicht gekühlten Brennstäbe hätten Wasserstoff entstehen lassen, der dann explodiert war.

Vierhunderttausend Menschen mussten nach der Reaktorkatastrophe ihre Häuser verlassen. Foto: Knauer

Die Sowjet-Ingenieure hatten einen triftigen Grund, Graphit-Reaktoren des Tschernobyl-Typs zu bauen: Aus ihnen können nämlich bei laufendem Betrieb die Brennstäbe entnommen werden, um daraus Plutonium für Atombomben zu gewinnen. Dafür nahmen sie sogar ein weiteres Problem in Kauf: Einmal gezündet, lässt sich Graphit kaum löschen. Die Hitze wirbelte die radioaktiven Elemente aus dem Reaktorkern in die Luft.

Fieberhaft versuchten Rettungsmannschaften, die glühende Reaktorruine unter Kontrolle zu bringen. In den Tagen nach der Havarie warfen Hubschrauberpiloten 40 Tonnen Bor-Karbid in die Ruine, um die Kernreaktion zu stoppen, 800 Tonnen Dolomit sollten die entstehende Wärme auffangen, 1800 Tonnen Sand und Lehm die schwelenden Feuer ersticken, 2400 Tonnen Blei die Strahlung abschirmen. Zehn Tage nach der Explosion war Tschernobyl 4 stabilisiert. 134 Arbeiter bekamen sehr hohe Strahlendosen ab, 28 von ihnen starben binnen vier Monaten.

Strahlender Schrott

Anschließend begannen tausende Bauarbeiter und Soldaten, eine bis zu 15 Meter dicke Beton-Hülle um den Reaktorblock zu bauen. Drei Betonwerke wurden eigens errichtet. Probleme bereitete die Konstruktion des Daches, da die Strahlung dort oben tödlich gewesen wäre. Daher wurde die Montage vom Hubschrauber aus durchgeführt. Sonderlich genau konnte aus der Luft aber nicht gearbeitet werden. Zwischen den Stahlrohren klafften Lücken, durch die der Regen tropfte. Da ein Arbeiter in nur zehn Stunden auf dem Dach eine tödliche Strahlendosis abbekommen hätte, wurden die Löcher ferngesteuert gestopft.

In dem Vierteljahrhundert seit der Katastrophe aber haben Wind und Wetter den Sarkophag zermürbt. Bis 2015 soll daher ein gigantisches Stahl-Gewölbe errichtet werden, unter dem der Sarkophag ferngesteuert "entsorgt" werden soll. Laut Plan soll das bis 2065 dauern. Die Katastrophe wäre dann fast ein Jahrhundert alt.

Ein paar Kilometer vom Sarkophag entfernt lagern in zehn Depots zwölf Millionen Kubikmeter strahlender Schrott: Feuerwehrfahrzeuge, Panzer und Busse, die bei der Beseitigung der Havarie-Folgen zum Einsatz kamen, Werkzeuge und Maschinen, mit denen der Sarkophag errichtet wurde. Mit der Zeit spült der Regen die Radioaktivität ab: Selbst an heiklen Stellen wie unter den Kotflügeln gibt es heute kaum noch stärkere Strahlung als in unbelasteten Gebieten. Auch werden die Schrotthaufen mit den Jahren kleiner, weil Plünderer alles klauen, was verwertbar scheint.

Die Reaktorkatastrophe hat neben Kriminellen einen weiteren Gewinner: die Natur. So paradox es klingt, ihr hat die radioaktive Verseuchung gut getan. Rund 400.000 Menschen wurden aus Teilen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands evakuiert. Die Natur kehrte aber rasch wieder zurück, heute heulen dort die Wölfe. Weißrussland hat einen Teil der evakuierten Zone daher zum "staatlichen radioökologischen Naturpark" erklärt.

Tiere als Gewinner

Pflanzen und Tiere kommen mit erhöhter Strahlung offenbar gut zurecht. Forscher des Institutes für Agrarökologie und Biotechnologie in Kiew haben anhand von vier im Sperrgebiet eingefangenen Rindern nachgewiesen, dass deren Kälber zwar mehrere Veränderungen im Erbgut zeigten, diese aber bis zur vierten Generation nahezu verschwanden.

Für Menschen ist die Sache anders: Die Explosion setzte große Mengen des radioaktiven Jod-131 frei, das von der Schilddrüse aufgenommen wird. Dort verändert es das Erbgut der Zellen und lässt Tumoren wachsen. Rund 5000 solcher Schilddrüsen-Tumore traten nach der Katastrophe in den Gebieten auf, in denen das radioaktive Jod vom Himmel fiel, erklärt Herwig Paretzke vom Institut für Strahlenforschung des Helmholtz-Zentrums München. Weil die Schilddrüse von Kindern stärker als die von Erwachsenen reagiert, waren zwei Drittel der Betroffenen jünger als fünf Jahre.

Wollen die Wissenschafter ermitteln, wie viele Krebstote eine Kernreaktorkatastrophe wie in Tschernobyl insgesamt fordert, stehen sie vor einem Problem. Denn ein durch radioaktive Strahlung ausgelöster Tumor tritt oft erst Jahrzehnte nach dem Unglück auf und unterscheidet sich nicht von einem Krebs, der andere Ursachen hatte. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO könnte Tschernobyl rund 4000 zusätzliche Krebstote verantworten - Anti-Atomkraft-Bewegungen nennen weitaus höhere Zahlen.

Keine Krebsstatistiken

Wer im Kindergarten von Pripjat vor den Spinden mit den überhastet zurückgelassenen Kinderschuhen steht, braucht keine Krebszahlen, um das Ausmaß der Katastrophe zu begreifen. Hunderttausende mussten ihre Heimat verlassen. Zweimal im Jahr dürfen sie in ihre Straßendörfer zurück, um Gräber zu besuchen. Einige sind dennoch dauerhaft in die Sperrzonen zurückgekehrt und leben dort unter primitiven Bedingungen, meist ohne fließendes Wasser oder Elektrizität.