Der raffinierte Wiener verlässt im Winter die Stadt. Wenn schwarzer Schneematsch die Straßen ziert, wenn der Fahrplan der Bim eher Verdacht als Versprechen ist, wenn kein Schal mehr gegen Kälte, keine Haube mehr gegen Weihnachtslieder hilft, vertschüsst er sich. In die Karibik, auf die Kanaren, nach Thailand, Mexiko, Ischgl – oder zur Oma nach Hintertupfing. Alles ist besser, als die winterliche Tristesse der Hauptstadt. Sobald sich mitten im Herbst das Glühwein-Bouquet wie eine Glocke über Wien stülpt, schmiedet er an der Exit-Strategie. Nur rechtzeitig die Reißleine ziehen. Immer einen Plan B in petto. Denn der Trübsinn kommt wie das Amen im Gebet. Allerspätestens mit den drei Heiligen aus dem Morgenland.
Im Sommer verhält es sich umgekehrt. Da bleibt der raffinierte Wiener hier. Zufrieden dreht er die Verkehrsnachrichten im Radio lauter: "Drei Stunden Wartezeit am Brenner." Warum soll er mit all den Deppen nach Jesolo stauen? Wien ist im Sommer ein Traum. Und recht hat er.
Genau wie Toni Polster. "Nix ist so schön, wie der Sommer in Wien", sang der in den Nullerjahren. Kein Wunder, schließlich wuchs der kleine Toni im zehnten Hieb auf. Und dort gibt es den Tichy. Und der Tichy hat das beste Eis der Stadt. Freilich streiten sich die Bobo-Gourmets im Sechsten, ob des Wahrheitsgehalts dieses alten Wiener Speiseeis-Dogmas. Hat nicht doch eher der Eis-Greissler mit seinen Bio-Milch-Schafskäse-Kreationen aus der Eis-Manufaktur die Nase vorne? Nein hat er nicht! Beim Tichy schmeckt Eis, wie es schmecken soll: Süß und nach Sommerferien.
Die legendären Eis-Marillenknödel sind jede einzelne Kalorie allemal wert. Generationen von Großeltern sind mit ihren Enkerln jahraus jahrein zum Tichy in den Zehnten gefahren. Am besten schmeckt das Tichy-Eis übrigens auf den Bänken am Reumannplatz. Nirgendwo sonst ist Wien mehr Stadt als hier. Der Yuppie-Anwalt schleckt hier genauso, wie Migrantenkids, Studenten, Obdachlose, Pensionisten. So soll eine Metropole sein. Vielfältig, authentisch, nicht glattgebügelt.
Der Reumannplatz funktioniert. Noch. Ab August wird er umgestaltet. Warum, weiß niemand so recht. Also schnell hin und Eisessen. Mehr als drei Knödel schafft kaum jemand. Eis kühlt weniger, als es füllt. Jetzt braucht der Mensch Bewegung und Schatten. Also nichts wie raus aus der sengenden Favoritner-Sommer-Hitze. Ein paar Straßenbahnstationen Richtung Osten findet sich Ausgleich – am Laaer Berg.
Wo im 19. Jahrhundert die Arbeiterschaft in den Ziegelgruben ausgebeutet wurde, erstreckt sich die wohl absurdeste Parkfläche Wiens. Ursprünglich war der Laaer Berg kahl. Der heutige Wald wurde auf den äußerst trockenen Schotterböden aufwendig aufgeforstet. Immer wieder starben große Teile ab. Doch die Stadtregierung gab nicht auf. Jahrzehntelang bemühte sie sich um das Wäldchen und zerstörte in ihrem Übermut die einst einzigartige Trockenvegetation des 251 Meter hohen Hügels. Wie auch immer. Es spaziert sich ganz hervorragend im künstlichen Forst. Er schmiegt sich um künstliche Teiche. Denn nachdem die Ziegelwerke schlossen, füllten sich die Abbaugruben mit Grundwasser. Vor allem der Butterteich ist ein Idyll. Ganze Entenfamilien schieben sich arrogant über die Wasseroberfläche - an schattenspendenden Eichen, Eschen und dem Schilfgürtel vorbei. Ein Genuss. Das Naturschauspiel wird einzig von Kindergeplärr und Happy-Techno getrübt. Er weht vom Böhmischen Prater herüber.
Wer den Böhmischen Prater nicht kennt, kennt Wien nicht. Am nördlichen Ende des Laaer Bergs liegt der klitzekleine Bruder des Wurstelpraters. Eine Handvoll Schaubuden und Fahrgeschäfte im Wald. Es riecht nach Zuckerwatte und den feuchten Blütenständen der Bäume. Ende des 19. Jahrhunderts siedelten sich um die Werkskantine der Wiener Ziegelwerke Schaustellerfamilien an. Sie stammten, wie die Fabriksarbeiter selbst, oft aus Böhmen und Mähren und gaben dem Vergnügungspark seinen Namen. Sogar ein Riesenrad gibt es hier. Mit seinen 20 Metern Durchmesser wirkt es wie die Minimundus-Version des Wiener Wahrzeichens. Doch auf die Größe kommt es hier nicht an.
In Wahrheit steht der Böhmische Prater dem Wiener Prater um nichts nach. Ganz im Gegenteil. Sein Fluidum ist einzigartig. Es speist sich aus einer grotesken Mischung aus Arbeiterromatik, Beisldunst, Kindertraum, Waldstimmung und Mitleid. Der Böhmische Prater ruft Melancholie und Glückseligkeit gleichermaßen hervor. Nach der Achterbahnfahrt der Gefühle kann man sich im Gasthof zum Werkelmann mit Spritzer und Heurigenjause stärken – mit Blick auf Simmering. Was will man mehr?
Vielleicht baden? Wien ist die Hauptstadt gepflegter Badekultur, obwohl, oder gerade weil die Donau aus dem Stadtzentrum verbannt wurde. Der viel besungene Strom streift die Stadt nur am Rande. Denn er wurde gebändigt. Sein verzweigtes Astsystem wurde ab 1870 verstümmelt, verschüttet, abgezwickt. Das ist zwar schade, brachte der Stadt jedoch zwei wesentliche Dinge: Die "Insel" und die "Alte Donau".

Beide sind für heiße Sommer essentiell. Ganz Wien pilgert ins Gänsehäufel, ins Arbeiterstrandbad, ins Eisenbahnerstrandbad, ins Angelibad, auf die Lager- und Romawiese an der Alten Donau. Das 1,6 Quadratkilometer große Binnengewässer nordöstlich des Hauptstroms ist die Adria Wiens. Wer hier noch den Hausmeisterstränden Oberitaliens nachweint, dem ist nicht mehr zu helfen. Schnitzelsemmel, Bier, Wein, Eis am Stiel, den grantigen Nachbarn gibt es da und dort. Lästigen Sandstrand, Quallen und Stau nur in Italien. Zur Alten Donau fährt die U1. Den besten Überblick verschafft man sich per Tret- oder Elektrobot. Doch je länger der Sommer, desto wärmer das Wasser. So wie die Adria, heizt sich die Alte Donau im Lauf der Saison zur Badewanne auf. Spätestens ab August heißt es wechseln – auf die Donauinsel.
Die "Insel", wie der Wiener sagt, sollte es eigentlich gar nicht geben. Die ÖVP war dagegen. 1969 stimmte sie im Wiener Gemeinderat gegen den Bau des Hochwasserschutzes. Aus Protest gegen den Baubeginn ließ sie 1973 sogar die Koalition mit den Sozis platzen, die sie trotz absoluter Mehrheit in die Regierung geholt hatten. Das historische "Nein" der Volkspartei gilt bis heute als Beispiel für Zukunftsverweigerung und politische Engstirnigkeit.
Wien ohne die Insel wäre wie Paris ohne Notre Dame. Zum Glück brennt die Insel nicht. Sie hat sich vom schnöden Hochwasserschutz zum Herzen der Hauptstadt gemausert. Der 20 Kilometer lange Grünstreifen zwischen Neuer Donau und Donau ist ein Refugium für die Großstadtseele. Hier kann man den Wiener in seinem natürlichen Habitat studieren. In den FKK-Zonen im Süden und Norden versengen Genitalien unter der Sonne. Nackte Männer drehen auf Rollschuhen Pirouetten. Eine türkischstämmige Wienerin zieht einen Kugelgrill über die Wiese. In der Luft hängt der Duft geschmorter Fleischlaibchen und Gurkensalat. Auf dem schmalen Asphaltband surrt eine Gruppe Rennradfahrer vorbei. Ihre Overalls strahlen in den Neonfarben der 1980er-Jahre. Auf der Donauinsel wird dem Sport genauso gefrönt, wie dem Müßiggang. Grillen, Lesen, Trinken, Drachensteigen, Kicken, Baden. In Richtung Süden dünnen sich die Menschen aus. Hier gibt es die wirklich idyllischen Plätze, die Albaner Schotterbank etwa. Wem das Wasser der Donau zu kalt ist, der wechselt einfach die Seite. Die Temperaturen der stehenden Neue Donau sind im Hochsommer ideal.
Doch die Badestadt Wien glänzt auch abseits der "wilden" Naturstrände. Berufstätige Eltern kennen die Vorzüge der innerstädtischen Familienbäder. Sie sind die Nachfahren der sogenannten Tröpferlbäder. Der Gesundheitsdiskurs um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert ließ in Wien öffentliche Brausebäder aus dem Boden schießen. Das Rote Wien wollte vorwiegend armen Mitbürgern die Gelegenheit bieten, sich zumindest einmal in der Woche zu säubern. Die Tröpferlbäder starben mit dem steigenden allgemeinen Wohlstand aus. Was blieb sind winzige Familienbäder. Elf Stück gibt es derzeit in Wien. Ihre großen Vorteile: Sie sind mitten im urbanen Raum, meist in Parks wie dem Augarten oder dem Währinger Park. Die kleinen, seichten Becken heizen sich schnell auf. Bibbernde Kinderkörper sucht man hier vergebens.
Für große Kinder empfiehlt sich das Schafbergbad. Hoch über den Köpfen der Stadt zeigen braungebrannte Jugendliche ihre Körper. Das pubertäre Schaulaufen im Schatten postsowjetischer Freibadarchitektur hat etwas Rührendes. Der Ausblick vom Rutschturm ist fantastisch, die 102 Meter lange Röhre auch. Überhaupt bietet das Bad alles, was das Badeherz begehrt. Weitläufige Becken zum Plantschen und Schwimmen, Sprungturm, Tischtennisplatten, Beachvolleyball- und Minigolfplatz. Im Grunde ist das Schafbergbad in Hernals das sozialdemokratische Pendant zum Döblinger Krapfenwaldlbad. Tummeln sich dort die Gstopften, baden am Schafberg jährlich 270.000 einfache Wiener unter ihresgleichen mindestens genauso luxuriös. Bricht der Abend über den Schafberg herein, bricht der Wiener auf. Nun bieten sich unzählige Möglichkeiten. Nur heim will er nicht.
Der Sommer in Wien entfaltet erst nächtens seine ganze Schönheit. Wer es sportlich mag, kann die Nacht mit einer Runde Minigolf einläuten. Der beste Platz der Stadt befindet sich im Postsportzentrum Hernals. Kenner der schiefen, von Wurzeln unterwanderten Bahnen, wissen ihren Vorteil gekonnt zu nutzen. Das Bier schmeckt unter den lauschigen Linden. Und da beim Minigolf der Caddie fehlt, sind die wohl verteilten Stehtische ein Segen. Siege müssen gefeiert werden, Niederlagen verdaut.
Beides kann man entweder beim Heurigen, oder am Donaukanal tun. Die Wiener Heurigenkultur muss nicht näher beschrieben werden. In den Bergen um die Stadt finden sich dutzende Möglichkeiten, den Reben, die man trinkt, beim Wachsen zuzusehen. Am Kahlen-, Nuss- oder Bisamberg, in Nussdorf, Sievering, Neustift am Walde und natürlich in Grinzing.
Auch der Donaukanal (ein weiteres Produkt der Donauregulierung) ist mittlerweile hinreichend bekannt. Der einst als Kloake verschriene Versorgungskanal hat sich in den vergangenen 15 Jahren als Ausgehmeile etabliert. Vor allem zwischen Franzens- und Augartenbrücke, also im Bereich des ersten Bezirks, steppt hier allabendlich der Bär.

Die Partyhorden drängen sich um die Lokale. Über die unverkennbare Kaimauer des Architekturvisionärs Otto Wagners baumeln tausende Beine. Doch es gibt sie noch, die Geheimtipps, die die Reiseführer bis heute – Gott sei dank – aussparen. In der Hafenkneipe bei der Franzensbrücke gibt es abwechselnd hervorragenden Steckerlfisch und annehmbare Pizza überm Lagerfeuer gebacken. Im Central Garden gleich daneben ist es angenehm ruhig. Hier geht es nicht ums Geldverdienen. Der sympathische Gemeinschaftsgarten mit Barbetrieb sieht sich als nicht kommerzieller Ort für Kunst, Kultur und Sport.
Ums Geldverdienen geht es auch beim Volxkino nicht. Das Wanderkino bespielt seit nunmehr 30 Jahren Plätze und Parks in Wien. Sobald es dunkel wird, flimmern Arthouse-Filme über die Leinwand. Gratis und für alle. Die Zuseher breiten sich auf Decken und Klappsessel aus. Das Volxkino war der Vorreiter einer breit gefächerten Sommerkinokultur in Wien. Vom Kino unter Sternen im Augarten bis zum Kaleidoskop am Karlsplatz oder dem Kino am Dach auf der Wienbücherei am Gürtel. Cineasten kommen in der ganzen Stadt auf ihre Kosten.
Nach dem Kino – meistens ist es nun Mitternacht – geht der raffinierte Wiener ins Bett. Schließlich wartet der nächste Urlaubstag daheim. Und zu tun gibt es noch viel. Im Rohrerhaus im Lainzer Tiergarten hat er heuer noch keinen Topfenstrudel gegessen. Beim Haustadlwasser im Prater ist er sowieso viel zu selten. Autodrom gefahren ist er mit 16 das letzte Mal. Wann soll er bitte nach Jesolo fahren? So ein Sommer in Wien vergeht wie im Flug. Wegfliegen kann er ja im Winter. Am besten bevor die drei Heiligen antanzen.