Ein ganz gewöhnlicher Nachmittag in der Wiener Innenstadt, Ecke Kärntner Straße und Oper. Eine wie Tibeter Mönche gekleidete Gruppe marschiert barfuß und irgendwelche Texte absingend über die Kreuzung, vor dem Sachercafé steht einer und singt "Ave Maria", vis à vis versuchen Demonstranten die Vorbeieilenden von der kritischen Lage im Nordsudan zu überzeugen. Zum Gaudium einiger Passanten nähern sich aus der Mahlerstraße junge Männer in schwarzen Lackslips und mit sonst nix. Wien ist ja bekanntlich eine Theaterstadt!

- © Irma Tulek
© Irma Tulek

Ortswechsel: Im Café Palmenhaus im Burggarten herrscht Hochbetrieb. Wer nicht gerade Zeitung liest, der kann den Ausblick auf den gepflegten Garten und die Wiese "genießen": Egal ob Dickbauch oder Affenbehaarung – auf ihren Oberkörper sind manche Männer so stolz, dass sie ihn unbedingt frank und frei ausstellen wollen. Sollen doch alle was von der Schönheit haben! Die Begleiterinnen sind etwas gschamiger und bedecken ihre Brüste mit Bikinioberteilen.

Opernpassage am Abend: Drei junge Burschen spazieren oben ohne an zwei Sicherheitsleuten der Wiener Linien vorbei. Keiner weist die drei auf ihr unpassendes Outfit hin.

Ortwechsel: Oper. Je sommerlicher, desto Hot-pantiger wird’s. Da stolziert doch seelenruhig eine junge Japanerin in einem rosa Seidenbabydoll durch die Räume. Immerhin Seide.

Bermudas und Flipflops sind offensichtlich die "angemessene Kleidung", fallen zwar unangenehm auf, aber keiner sagt was. Da könnte man ja als verzopft, reaktionär oder uncool gelten. Aufregung gibt es erst, wenn es um ein gesellschaftliches, medial ausgeschlachtetes Ereignis geht. Etwa als Gabalier in knackiger Kurzer zum Begräbnis von Niki Lauda kam. Die war dann doch um einige Zentimeter zu kurz! Denkanstoß war der Vorfall aber nicht.

Was waren das für Zeiten, seufzt so mancher, als es für die Stadt noch "Bekleidungsvorschriften" gab. Die Dame ging nicht ohne Hut und Handschuhe aus. Das Haupt des Herrn bedeckte ein edler Strohhut. Selbst bei größter Hitze waren Hemd mit Manschettenknöpfen, Weste und Anzugjacke unerlässlich. Tempi passati!

Nur kane Vurschriften!

Man darf ja noch fragen, wie die Obrigkeit auf diese Unmode in der Innenstadt reagiert. Fragen schon, Antworten gibt es keine, oder wenn doch, dann Floskeln, die nichts aussagen. Nachgefragt wurde beim Bezirksvorsteher des ersten Bezirks, Markus Figl. Für ein Interview stand er nicht zur Verfügung. Aus der Presseabteilung bekommt man folgendes Statement: "Der Bezirksvorsteher ist von den Bewohnern des ersten Bezirkes gewählt worden. Da sich zum Thema "richtig bekleidet in der City" noch niemand gemeldet oder sich beschwert hat, kann Herr Figl dazu kein Statement abgeben." Also alles paletti!?

Angefragt wurde auch bei den Wiener Linien, die sich ja in den letzten Monaten bezüglich Essensverbot in den U-Bahnen als strenge Hüter der Ordnung hervortaten. Die Pressesprecherin Kathrin Liener zu diesem Thema: "Das Personal der Wiener Linien hat keine Direktiven bezüglich Dresscode. Auch wenn Männer oben ohne, Frauen im Bikini-Oberteil einsteigen, haben sie nicht den Auftrag, diese Personen auf die unpassende Kleidung anzusprechen." Wenigstens ein klares Statement.

Rund um die Uhr steht ein Polizeiwagen an der Ecke Oper/Hotel Sacher. Was tun die Beamten, wenn Personen wie oben geschildert vorbeimarschieren? Von der Pressestelle der Landespolizeidirektion kam folgende Antwort: "Es gibt keine Vorschrift, die "stadtgemäße" Kleidung o.Ä. vorschreibt." Danach folgt im guten Beamtendeutsch eine Erklärung der Gesetzeslage.

Deutlicher schon äußerte sich Irmgard Poschacher, Pressesprecherin der Bundesgärten: "Die Österreichischen Bundesgärten verstehen sich als lebendiges Museum, in dem auch adäquate Kleidung wünschenswert ist. ‚Oben ohne‘ wird daher nicht gerne gesehen, es gibt allerdings keine ‚Ermahnung‘ für die Parkbesucherinnen." Immerhin hört man deutlich ein Bedauern heraus, dass es keine Handhabe gegen die ästhetische Verunglimpfung in den so liebevoll gepflegten Bundesgärten gibt.

Um aus den heiligen Hallen der Oper ein Statement zu bekommen, bedurfte es einiger Geduld. Zunächst erfolgte der Hinweis auf die allgemeinen Bestimmungen der Hausordnung, die besagt, dass "Besucher dem Anlass entsprechend gekleidet sein sollen". Wie ist man dem Anlass entsprechend gekleidet und wer entscheidet, was richtig oder falsches Outfit ist? Eigentlich ist das die Pflicht der Billeteure. Ein diesbezügliches Interview war nicht möglich, da laut Auskunft der Pressestelle dieses Personal nicht der Oper unterstellt ist. Auf die Nachfrage nach dem Namen der Firma kam keine Antwort.

Fazit aus diesen Umfragen bei den öffentlichen Stellen: Mit diesem heiklen Thema will sich niemand beschäftigen.

Nicht alle leiden geduldig

Große Spiegel, edle Materialien und ein intimer Wohnzimmerrahmen verlangen dementsprechende Kleidung. Deshalb hat Marianne Kohn, Pächterin der Loosbar, an der Eingangstür ein Schild angebracht: No Short Pants, No Flip Flops. Und schon springt sie während des Interviews auf und komplimentiert drei junge Männer in genau diesem Outfit aus der Bar. "Ich bin ja kein Lokal in Favoriten", kommentiert sie die Aktion. "Als Kind schon war diese Bar für mich der schönste Ort in Wien. Die Leute sollen gefälligst ordentlich gekleidet in meine Bar kommen. Es ist wirklich ein Skandal, wie respektlos manche angezogen sind. Früher hat man sich sogar fürs Kino schön angezogen", ereifert sich die resolute Dame.

Lotte Tobisch, oft auch die Grande Dame von Wien genannt, nimmt sich ebenfalls kein Blatt vor den Mund. "Zurück zur Natur in der Stadt! So ein Quatsch! Heute verwechselt man die Innenstadt mit Caorle!", ereifert sich die Dame, die auf gepflegtes Äußeres hohen Wert legt. "Wer spricht heute noch von einem ‚Fest‘? – Alles ist ein ‚event‘. Daher gibt es keine festliche Kleidung, nur mehr Outfits. Das ist falsch verstandene Gleichmacherei."

Einer, der mit dem Problem tagtäglich konfrontiert wird, ist Toni Faber, Dompfarrer von St. Stephan. Die Aufseher im Dom singen ihm täglich ihr Klagelied. "Es ist ein heikles Thema", räumt er ein und erzählt eine Anekdote, die, wenn sie nicht wahr, so doch gut erfunden ist: Der Aufseher bittet einen Mann mit nacktem Oberkörper, den Dom zu verlassen. Der aber kontert: "Wieso, die Engel san a nockad." Darauf der Aufseher: "Die sind aus Stein!" Der Gerügte ist um die Antwort nicht verlegen: "No, was glauben Sie, i bin a aus Stan." (Gefängnis). Als ein Besucher mit zwei Dobermännern an der Leine den Dom betreten wollte, da reichte es. Seither hängt eine mehrsprachige Hausordnung im Eingangsbereich. Ob das helfen wird? "Wir haben 6,4 Millionen Besucher im Jahr. Wie sollen wir die alle kontrollieren?", seufzt Toni Faber.

Grenzenlose Freiheit?

Johan Idema ist holländischer Schriftsteller und Initiator zahlreicher kultureller Unternehmen. In seinem jüngsten Buch "How to be a better tourist" stellt er die fundamental wichtige Frage: Wir alle sind Touristen. Aber wie können wir gute Touristen sein, ohne die Seele der Destination zu zerstören?

Dresscode jeder Art hat eine gesellschaftliche Wirkung. Was einer trägt, egal ob Einheimischer oder Besucher, macht die Atmosphäre einer Straße, eines Viertels, einer Stadt aus. Städte wie Wien, Venedig, Amsterdam, Barcelona leiden unter dem Touristenansturm. Nicht allein wegen der Masse, die von den Riesenbussen oder Kreuzfahrtschiffen ausgespuckt werden, sondern auch wegen der Optik. Dubrovnik hat zu rigorosen Maßnahmen gegriffen: Wer mit nacktem Oberkörper durch die Stadt marschiert, muss zahlen. Toleranz und Freiheit haben ihre Grenzen und enden dort, wo das ästhetische Empfinden der Bewohner gestört wird. Wem der Respekt vor der Stadt, ihrer Einmaligkeit, ihrer Lebensform fehlt, der ist sicher kein "better tourist". Vielleicht wird es in Zukunft dazu kommen, dass die vom Massentourismus geplagten Orte Eintritt verlangen werden. Auf der Eintrittskarte steht dann: Wir bitten um entsprechende Kleidung. Ob das was nützen wird?