Wien. Er siecht dahin, kränkelt, ist kraftlos. Er trinkt zu wenig. Er atmet Abgase. Er ist gestresst. Von oben heizt ihm die Sonne gnadenlos ein. Permanent droht der Exitus. Ein Häuflein Elend zwischen Asphalt und Beton. Und doch wird er als Superheld gefeiert. Als Heilsbringer. Die letzten Hoffnungen der Metropolen ruhen auf seinen Schultern. Der Stadtbaum soll es richten.

Er soll richten, was wir verpfuscht haben. Den Klimawandel. Das Feinstaub-Desaster. Die Hitze. Ausgerechnet er, der am meisten darunter leidet, den die Bedingungen der Stadt in den viel zu frühen Tod treiben. Der in den Wald gehört, wo er zwischen Artgenossen und Vogelgezwitscher ein gesundes Baumleben führen könnte. Doch vielleicht kommt der Wald ja zu ihm. Vielleicht kommt der Wald in die Stadt. Stadtregierungen haben das Potenzial von Bäumen gegen den Klimawandel erkannt.

Die Städte heizen sich auf. Im Sommer 2018 gab es in Wien mit 42 Hitzetagen doppelt so viele Tage mit Temperaturen über 30 Grad Celsius als im langjährigen Mittel. Die Spitzenwerte kratzten an der 40-Grad-Marke. In 46 Nächten kühlte es nicht mehr unter 20 Grad ab. Solche Extreme werden in sehr naher Zukunft eher Regel als Ausnahme sein. Die Durchschnittstemperatur stieg in Wien in nur vier Jahrzehnten um satte zwei Grad. Der Trend ist also eindeutig. Es wird unangenehm heiß. Letal heiß. Laut Berechnungen der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) raffte der Rekordsommer 2018 österreichweit 766 Menschen dahin - etwa so viele wie die Grippe.

Hitzeflecken über der Innenstadt

Hitzewellen sind für Städter wesentlich gefährlicher als für Landbewohner. Der Temperaturunterschied zwischen urbanem und ruralem Gebiet kann bis zu zehn Grad betragen. Zwischen den Betonblöcken drückt die Hitze. Die Luft staut sich über den versiegelten Flächen. Klimatologen nennen das Phänomen "städtische Hitzeinsel". "Sie sind typisch für das urbane Klima", sagt Maja Zuvela-Aloise. Die Klimatologin der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) beschäftigt sich mit dem Mikroklima von Städten. "Hitzeinseln entstehen durch die Wechselwirkung verschiedener Effekte."

500 Meter weiter wächst nichts. Die Invalidenstraße ist kahl. Der Unterschied ist eklatant. - © Matthias Winterer
500 Meter weiter wächst nichts. Die Invalidenstraße ist kahl. Der Unterschied ist eklatant. - © Matthias Winterer

Gebäude und Straßen absorbieren die Sonnenstrahlung und heizen sich auf. Sie speichern die Wärme und geben sie nachts ab. Außerdem sind Städte schlecht durchlüftet. Der kühlen Brise aus dem Umland stehen Häuser im Weg. Die Luft ist voller Schadstoffe. Ihre hohe Konzentration an Partikeln dämpft die Wärmeabstrahlung. Auf den versiegelten Böden fließt Regenwasser schnell ab und verdunstet nicht. Durch die fehlende Vegetation gibt es kaum natürliche Schatten.

Zuvela-Aloise sitzt vor einer Landkarte Wiens. Rote, gelbe und grüne Flecken ziehen sich wie die Blasen einer Lavalampe über den Stadtraum. "Sie simulieren die städtische Wärmebelastung in Echtzeit", sagt sie. Die Karte ist einfach zu lesen. Rot heißt heiß, grün heißt kühl. Über der Innenstadt, dem Gürtel, dem Wallensteinplatz, Simmering hängen tiefrote Blasen - über dem Prater, dem Wienerwald, dem Lainzer Tiergarten, Schönbrunn grüne. Das Ergebnis ist eindeutig. Dort, wo Bäume wachsen, ist es kühler.

Übedimensionale Klimaanlagen

Bäume spenden nicht nur Schatten. Sie schwitzen für uns. Je heißer es ist, desto mehr Wasser verdunstet über ihre Blätter. Dadurch kühlt die Luft ab. Der Effekt ist dem einer Klimaanlage nicht unähnlich. Bäume übertreffen die Leistung von Klimaanlagen jedoch um ein Vielfaches. Je nach Baumgröße kann sie bis zu 30 Kilowatt betragen, während eine herkömmliche Raumklimaanlage gerade einmal drei Kilowatt schafft – wie die Universität Wageningen in den Niederlanden berechnete. Im Wald stehen tausende solcher Superklimaanlagen nebeneinander. Wer im Sommer durch den Wald spaziert, kennt ihre lauschige Wirkung.

In der Franzensbrückenstraße wirft eine Allee von Zürgelbäumen kühlende Schatten auf die Fahrbahn. Der Zürgelbaum ist der Hoffnungsträger der Stadtgärtner. - © Matthias Winterer
In der Franzensbrückenstraße wirft eine Allee von Zürgelbäumen kühlende Schatten auf die Fahrbahn. Der Zürgelbaum ist der Hoffnungsträger der Stadtgärtner. - © Matthias Winterer

Neben dieser unmittelbaren Wirkung kühlt der Baum auch auf lange Sicht. Bäume sind wertvolle Kohlenstoffspeicher. Im Zuge der Photosynthese filtern sie das Treibgas CO2 – den Hauptverursacher der Klimakrise - aus der Luft. Vor wenigen Wochen sorgten Forscher der ETH Zürich mit der Idee für Aufsehen, die Erderhitzung durch großflächige Aufforstung zu drosseln. Eine Milliarde Hektar zusätzlicher Wald würde zwei Drittel aller jemals von Menschen verursachten CO2-Emissionen speichern. Nur so könnte man die Pariser Klimaziele noch haarscharf erreichen.

In Österreichs Wäldern sind rund drei Milliarden Tonnen CO2 gespeichert. Das entspricht der 35-fachen Menge, die wir jährlich an Treibhausgasen ausstoßen – vorwiegend in der Stadt natürlich. Die Kiefern, Buchen, Pappeln und Fichten in den Bundesländern retten die schlechte Bilanz der Städte. Denn hier wird kaum CO2 gebunden. Wie denn auch? Die Stadt ist nun mal kein Wald.

Der Rocky Balboa unter den Bäumen 

Das soll Karl Hawliczek ändern. Der Leiter des Dezernats für Grünflächenpflege und –erhaltung bei den Wiener Stadtgärten (MA42) ist für 485.000 Bäume verantwortlich. Das sind alle Bäume in Parks und entlang von Straßen innerhalb der Wiener Stadtgrenze. Forstflächen wie der Wienerwald oder der Lainzer Tiergarten zählen nicht dazu. Jährlich fällen die Stadtgärtner rund 2000 alte, kranke oder befallene Bäume. 2000 bis 3000 neue setzen sie. Hawliczek will den Wert deutlich steigern. Dazu gibt ihm die rot-grüne Stadtregierung Geld in die Hand. Acht Millionen Euro Sonderbudget hat sie vor wenigen Wochen für kühlende Maßnahmen beschlossen. Das Geld wird auch in Neupflanzungen fließen. Es soll sich um mehrere hundert Bäume handeln, wie es aus dem Büro der grünen Vizebürgermeisterin Birgit Hebein heißt. Wachsen sollen sie etwa in Hitzeschneisen wie der Waldgasse in Favoriten oder in den Gründerzeitblocks der Innenstadt. Auch der Yppenplatz in Ottakring und das Volkertviertel im zweiten Bezirk sollen entschärft werden. Gesetzt werden Platanen, Eschen und Ulmen. Baum ist nicht Baum.

Verlässlich zum Frühlingsbeginn ist die Wiener Ringstraße in frisches, helles Grün getaucht. Wenn andere Bäume noch kahl sind, blüht der Spitzahorn bereits. Er ist der häufigste Baum in Wien. 26 Prozent aller Straßen- und Parkbäume sind Ahorne. Rund 600 Exemplare stehen am Ring. Doch der Spitzahorn kommt mit den extremen Verhältnissen der vergangenen Jahre nicht zurecht. "Der Baum ist gestresst. Er verliert oft schon Ende Juli, Anfang August die Blätter", sagt Hawliczek. Und so finden sich in den Ahornreihen an der Ringstraße immer öfter auch Zürgelbäume. Sie sollen die Ahorne auf lange Sicht ablösen.

Der Zürgelbaum – auch Celtis australis - ist der Rocky Balboa unter den Bäumen. Hitze, Abgase, knochenharte Böden, Streusalz - nichts wirft den Zürgelbaum um. Er ist auch unter dem Namen "Steinbrecher" bekannt. Seine robusten Wurzeln sprießen selbst in Felsspalten. Sein hartes - aber biegsames - Holz wurde früher für stark beanspruchte Werkzeuge, Wagenräder, Ruder verwendet. Ursprünglich wuchs er im Süden Europas, in Afrika, in der Türkei. Heute wird er oft in zentraleuropäischen Metropolen gepflanzt. "Er ist kräftig, wird mit zehn bis 20 Metern nicht allzu hoch, hat eine ausladende Krone und bildet eine fantastische Grünkulisse", sagt Hawliczek. 450 Stück säumen mittlerweile die Ringstraße. Auf der Franzensbrückenstraße wirft eine Allee von Zürgelbäumen kühlende Schatten auf die Fahrbahn.

"Die Kastanie hat ausgedient"

Hundert Meter weiter liegen grüne, stachelige Kugeln auf der Hauptallee im Prater. Hier regiert seit hunderten Jahren die Gewöhnliche Rosskastanie. In sechs stolzen Reihen stehen die monumentalen Bäume neben der schnurgeraden Promenade. Einige von ihnen sind über 150 Jahre alt. Wie der Spitzahorn ist die Rosskastanie ein Wiener Klassiker. Mit einem Anteil von zwölf Prozent ist sie nach der Linde (17 Prozent) der dritthäufigste Straßenbaum. Noch - denn wie der Spitzahorn hat auch sie ein Problem. Seit 20 Jahren frisst sich die Miniermotte durch die Kastanienbäume der Stadt. Der Falter liebt die Hitze. Die Kastanie hasst sie. Die Bäume sind geschwächt und können sich gegen die Eindringlinge nicht wehren. Die sattgrünen, vielfingrigen Blätter bilden braune Einschlüsse, in denen die Larven des Schädlings nisten. Ein biologisches Pflanzenschutzmittel soll den Befall eindämmen, zumindest im Prater. Hochdrucksprühgerätebenetzen die mächtigen Kronen mit dem Präparat. Nur noch auf historischen Alleen wie hier, wo das Ensemble erhalten bleiben soll, setzen die Stadtgärtner weiter Kastanien. "Überall sonst hat sie als Straßenbaum ausgedient", sagt Hawliczek. "Wir haben uns vom Kastanienbaum als Neupflanzung verabschiedet."

Auf der Hauptallee im Prater regiert seit hunderten Jahren die Gewöhnliche Rosskastanie. - © Matthias Winterer
Auf der Hauptallee im Prater regiert seit hunderten Jahren die Gewöhnliche Rosskastanie. - © Matthias Winterer

Spitzahorn und Rosskastanie sind nicht allein. Viele altgediente Wiener Baumsorten sind den extremen Bedingungen der Stadt längst nicht mehr gewachsen. Die Stadtgärtner haben ihr Sortiment bereits vor Jahren umgestellt. Das wird das Stadtbild entscheidend verändern. Neben Platanen, Eschen und dem Zürgelbaum kommen auch andere Exoten wie der Japanische Schnurbaum oder die Chinesische Wildbirne vermehrt zum Einsatz. Doch die Wahl des Baumes ist nur eine Seite der Medaille.

Ob ein Baum gedeiht, ist von zwei Faktoren abhängig: Wasser und Sauerstoff. Von beidem haben Bäume im dicht versiegelten Stadtgebiet tendenziell zu wenig. Sie mit beidem zu versorgen, ist die Herausforderung der Stadtgärtner – vor allem während anhaltender Hitzewellen und Trockenphasen wie im heurigen Juni. Doch so wie jede Krise birgt auch die Klimakrise Chancen – Chancen auf Innovation.

Die Krise bringt Innovation

Die Seestadt ist eine "Schwammstadt". Das behaupten die Werbestrategen der Wiener Stadtregierung. Das Schlagwort beschreibt eine neue Methode, Bäume zu bewässern und ihre Wurzeln zu belüften. In der Seestadt Aspern wurde sie erstmals eingesetzt. "Die verdichteten Böden an Straßen sind denkbar schlecht für die Wurzelstöcke der Bäume", sagt Hawliczek. "Sie bekommen kaum Luft, verkümmern, sterben oft ab." Deshalb wurden die Straßen der Seestadt wie ein Schwamm mit einem Gemisch aus Steinen, Splitt und Kompost unterfüttert. In die Hohlräume wird Feinmaterial geschwemmt. Der Boden saugt das Wasser auf und speichert es. Gleichzeitig kann überschüssiges Wasser bei Starkregen ungehindert abfließen. Das Konzept geht auf. Die jungen Bäume in Aspern sind voluminös und gesund.

Was in den neu geplanten Quartieren funktioniert, ist im historischen Bestand schwierig. Hier fehlt der Schwamm. Hier quälen sich die Wurzeln durch knochenhartes Erdreich. Der Beton über ihnen trennt sie vom Regenwasser, das in irgendeinem Abguss verschwindet. Die Stadtgärtner feilen daran, die Bedingungen zu verbessern. Sie haben ein spezielles Substrat entwickelt. Das grobkörnige Wiener Gemisch aus Schotter, Sand und Kompost wird in jede neue Baumgrube gekippt. Es spendet dem Baum möglichst lange Luft und Nässe. Über tausend Bewässerungssysteme helfen den Bäumen der Stadt außerdem. Um junge Stämme wickeln sich seit wenigen Jahren sogenannte Gießsäcke. Viereinhalbtausend Stück gibt es in Wien. "Sie geben das Wasser langsam ab. So bleibt der Wurzelstock anhaltend feucht", sagt Hawliczek.

Seit 20 Jahren frisst sich die Miniermotte durch die Kastanienbäume der Stadt. Der Falter liebt die Hitze. Die Kastanie hasst sie. - © Matthias Winterer
Seit 20 Jahren frisst sich die Miniermotte durch die Kastanienbäume der Stadt. Der Falter liebt die Hitze. Die Kastanie hasst sie. - © Matthias Winterer

Neue Baumsorten, ausgeklügelte Bewässerungssysteme, Substrat, Innovation und der politische Wille, viel Geld in die Hand zu nehmen. Der Straßenbaum hat als Klimaheld überzeugt. Unter dem Druck der permanenten Hochwetterlage hat sich die Stadt um Hilfe bittend an ihn gewandt. Wird er uns retten? Wird nun im großen Stil aufgeforstet? Duftet es in der Wollzeile schon bald nach Moos und Pilzen? Werden im Museumsquartier Rehe zwischen asiatischen Baumriesen grasen? Eichhörnchen über begrünte Fassaden zischen? Eulen ihre Köpfe nach Autos am Gürtel umdrehen? Kommt der Wald tatsächlich in die Stadt?

Der Kampf um Raum

Matthias Holzmüller winkt ab. Der Sprecher der MA 28 (Straßenverwaltung und Straßenbau) hat täglich mit dem Straßenbaum zu tun. Er wächst auf seinem Revier. Holzmüllers Behörde bestimmt, wo Karl Hawliczeks Behörde Bäume pflanzen darf. Er kennt das Potenzial des Straßenbaums und seinen natürlichen Feind – den Autobesitzer. "Wo ein neuer Baum steht, muss ein Autoabstellplatz weichen", sagt er. Werden in Wien Parkplätze gestrichen, trudeln am Bezirksamt Beschwerdeanrufe ein – so sicher wie das Amen im Gebet.

"Neun Quadratmeter ist eine Baumscheibe mindestens groß. Sie muss einen Meter vom Randstein, 3,5 Meter von Fassaden und 1,5 Meter von Drähten und Lampen entfernt sein", rattert Holzmüller die Bauordnung herunter. So ein Baum braucht Platz. Den gibt es oft oben nicht – und unten schon gar nicht. Wurzelstöcke von Bäumen sind meist so groß wie ihre Kronen. Unter der Oberfläche kämpfen sie mit Strom-, Gas-, Wasser- und Telekommunikationsleitungen um Platz. "In Zeiten des Glasfaserinternets werden die Kabel nicht unbedingt weniger", sagt Holzmüller. "Im historischen Bestand wird es zunehmend eng. In vielen Straßen ist es schlichtweg unmöglich, neue Bäume zu pflanzen."

Das Unmögliche möglichen machen. Experten raten zu der Devise. Denn ohne mehr Bäume wird es nicht gehen. Die Klimakatastrophe zwingt uns zum Umdenken. Die Stadt als Habitat des Autos ist nicht mehr tragbar. Wie es funktionieren kann, zeigt die Umgestaltung der Mariahilfer Straße. Als utopisches Projekt belächelt, von der Autolobby gehasst, hat sich der radikale Gedanke durchgesetzt. Heute flanieren die Menschen unter dem Dach saftiger Säulengleditschien. Ihre Wipfel wachsen über den Köpfen zusammen. Straßenbäume, wohin das Auge reicht.