"Wiener Zeitung": Die Auswirkungen des Waldes auf den Menschen werden seit Jahrzehnten wissenschaftlich erforscht. In Ihrem aktuellen Buch "Der Biophilia-Effekt - Heilung aus dem Wald" beschreiben Sie einen hierzulande bisher eher unbekannten Ansatz. Was genau ist unter diesem Effekt zu verstehen?

Beim Thema "Biophilia" sind die Gefahren des Waldes jedenfalls total vernachlässigbar, sagt Buchautor Clemens Arvay. - © Lukas Beck
Beim Thema "Biophilia" sind die Gefahren des Waldes jedenfalls total vernachlässigbar, sagt Buchautor Clemens Arvay. - © Lukas Beck

Clemens Arvay: Der Biophilia-Effekt ist die gesundheitsfördernde und heilsame Wirkung, welche die Natur auf uns Menschen hat. Dabei geht es nicht um natürliche Arzneimittel, sondern um den Kontakt zur Natur und den Aufenthalt in Wäldern oder auf Wiesen. Der Begriff "Biophilia" stammt von dem bekannten Psychoanalytiker Erich Fromm: Er ging davon aus, dass die Hingabe zur Natur in jedem Menschen angelegt ist. Der Evolutionsbiologe Edward Wilson wiederum hat den Begriff in die Naturwissenschaften eingeführt, indem er von einer genetischen Veranlagung des Menschen spricht, mit anderen Lebewesen in Kontakt zu treten. Also dass aus unserer Menschheitsgeschichte diese Neigung kommt, uns mit der Natur, mit anderen Lebewesen zu verbinden.

Wenngleich die Frage, ob Natur oder Umwelt das Wesen des Menschen bestimmt, bis heute die Wissenschaft scheidet.

Es gibt weder den Menschen nur als reines Naturwesen, bei dem alles genetisch veranlagt ist, noch ist der Mensch nur gesellschaftlich konstruiert. Der Mensch ist eben eine interessante Mischung. Das Faszinierende in Hinblick auf die genetische Anlage ist, dass unser Immunsystem sich als kommunikationsfähiges Sinnessystem herausgestellt hat, das in permanentem Austausch mit der Umgebung steht. Mit dieser organischen Antenne können wir den Wald betreten und sogar die Funksprüche der Pflanzen auffangen. Denn Pflanzen kommunizieren miteinander. Das hat nichts mit Esoterik zu tun sondern ist knallharte Wissenschaft.

Clemens Arvay über die Kommunikation der Pflanzen

Wie funktioniert diese Kommunikation?

Die Kommunikation läuft nicht über Sprache, sondern über chemische Substanzen. Diese Kommunikationsmoleküle gehören in die Gruppe der Terpene. Mit Terpenen können Pflanzen sich gegenseitig vor Angreifern warnen, sich darüber informieren, welche Schädlinge angreifen und wie groß diese Schädlingsarmee ist, damit die anderen Pflanzen ihr Immunsystem hochfahren. Und sie können sogar nützliche Insekten herbeirufen. (Mehr dazu im Video)

Und wie beeinflusst dies den Menschen?

Der Wald ist voll mit diesen sekundären Pflanzenstoffen. Wir kommen in Kontakt mit den Terpenen und unser Immunsystem reagiert darauf. Waldluft stärkt unser Immunsystem und kann antikarzinogen wirken. Wie der Mediziner Qing Li an der Nippon Medical School in Tokyo nachgewiesen hat, führt der Kontakt mit diesen Terpene zu einer signifikanten Steigerung der natürlichen Killerzellen – nach einem Tag oder einem ausgedehnten Waldspaziergang bereits um bis zu 50 Prozent, nach zwei Tagen im Wald um bis zu 70 Prozent!

Die zweite Erkenntnis: Die drei wichtigsten Antikrebsproteine Perforin, Granolysin und die Granzyme werden durch diesen Kontakt mit Waldluft ebenfalls deutlich gestärkt. Sie helfen dem Immunsystem, gefährliche Zellen zu vergiften. Außerdem haben Wissenschaftler aus den USA, aus Europa, Japan und Korea festgestellt, dass die Herzschutzsubstanz DHEA durch Waldluft vermehrt produziert wird, sie schützt vor koronarer Herzkrankheit und Herzinfarkt. Eine weitere Zivilisationskrankheit gegen die Waldluft hilft, ist Diabetes II: Bei diesen Patienten kann durch Waldluft und Waldspaziergänge der Blutzuckerspiegel gesenkt werden.

Qing Lis Studien sind in japanischen Wäldern, vor allem in Zedern- und Zypressenwäldern, durchgeführt worden. Kann man die Ergebnisse so einfach auf europäische Wälder ummünzen?

Eine Zusammenfassung seiner Studien zeigt, dass die Erkenntnisse auf jeden Wald übertragbar sind. Leider fehlen hierzulande detaillierte Forschungen. Aber wir können davon ausgehen, dass die Bäume auch hier diese Substanzen abgeben. Cineol, Isopren, diverse Limonene oder verschiedenen Pinene zum Beispiel. Das sind Substanzen, die vor allem von Nadelbäumen abgegeben werden. Auch bei uns. Und es ist offensichtlich so, dass Nadelbäume mehr von diesen Substanzen abgeben, auf die unser Immunsystem anspricht, als Laubbäume.
In Japan hat sich auf Basis dieser Erkenntnisse übrigens eine Waldmedizin etabliert, eine anerkannte Methode zur Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten, die staatlich gefördert, an Kliniken angewendet und an den staatlichen Unis erforscht wird. In diesem Zusammenhang ist auch Shinrin-yoku, das bedeutet "Einatmen der Waldatmosphäre", entstanden: das Waldbaden.

Sind Bäume, die in Monokulturen wie Energiewälder oder Pappelhaine wachsen, dann ebenfalls heilsam?

Eine Monokultur ist kein Wald, sondern ein "Acker". Das Potential der Wälder kann hier nicht entstehen. Ein Wald ist wie ein lebendiger Organismus, in dem alle Bewohner miteinander verwoben sind und perfekt zusammenspielen. Monokulturen können das nicht.

Qing Li wird manchmal hinsichtlich der Methode seiner Studien kritisiert: Sie seien wenig empirisch, heißt es.

Das kommt daher, dass Studien mit großen Vergleichsgruppen nach wie vor Goldstandard in der pharmazeutischen und medizinischen Forschung sind. Allerdings gibt es auch andere Ansätze.

Dass der Kontakt zur Natur gesund machen kann, dass diese natürlichen Killerzellen durch Waldluft gestärkt werden, wurde hieb und stichfest bewiesen. Auch Lis begleitende Studien in den Hotelzimmern, in denen man den Probanden über Zerstäuber Substanzen aus dem Wald verabreichte, sind einwandfrei: Man nahm nicht nur im Wald Blutproben und verglich die Ergebnisse mit Alltagssituationen, sondern man führte auch Messungen im Wald durch, welche Substanzen eigentlich heilsam wirken. Diese wurden dann isoliert anwendet - das Hotelzimmer wurde quasi zum Labor, wo man diese Substanzen gezielt verabreichen konnte. Und sie wirkten tatsächlich.

Mit Menschen in den Wald zu gehen und Blutwerte während der Zeit im Wald, zuvor und danach zu messen - das ist empirische Forschung. So kann ich den Prozess auf der biochemischen, auf der körperlichen und physiologischen Ebene genau dokumentieren. Natürlich könnte man sagen: "Nein, wir brauchen vier Kontrollgruppen, möglichst mit tausend Personen und vielen Statistiken dazu." Allerdings ist es schwierig, mit so vielen Menschen und unter kontrollierten Bedingungen durch den Wald zu gehen. Und wenn ich bei einzelnen Versuchspersonen feststelle, dass sie zum Beispiel mehr Herzschutzsubstanzen haben, dann kann ich danach mit einer großen Gruppe noch stichprobenartig untersuchen, ob das auch stimmt. Das wurde auch bereits gemacht.

Diese Studien vergleichen die Werte, die im Wald gemessen werden, mit den Werten in der Stadt. Könnte man daraus nicht schließen, dass der Wald einen gewissen Normalzustand herstellt, hinsichtlich der hohen Stresslevel und Lärmpegel in urbanen Zentren?

Ja, durchaus! Der Wald hilft uns, wieder in diejenige Balance zu kommen, die normal sein sollte. Unser Immunsystem hat immer im Austausch mit der Umwelt funktioniert. Es geht nicht nur um die Gifte und Schadstoffe, die in der Stadt dazukommen, sondern auch um die gesundheitsfördernden Substanzen, die durch die Trennung von der Natur wegfallen. So gesehen könnte man sagen, dass unsere Killerzellen und Antikrebsgeschütze im Wald nicht mehr werden, sondern in der Stadt abnehmen. Möglicherweise braucht ein funktionierendes Immunsystem diese Substanzen, da wir und unsere biologischen Vorfahren seit Millionen Jahren daran angepasst sind.

Das würde es auch logisch machen, warum sich viele Zivilisationskrankheiten nicht bloß über Umweltgifte erklären lassen, sondern auch über die Trennung des Menschen von der Natur. Mit Sicherheit wird sich die Medizin noch sehr wandeln: Man wird einsehen, dass der Kontakt mit der Natur ein großes heilsames Potential hat. Ich bin sicher, dass es in den nächsten 40, 50 Jahren keine Klinik ohne Garten oder Grünflächen mehr geben wird.

Aber ein Garten ist kein Wald. Reichen ein paar Bäume schon?

Es geht auch um die Wahrnehmung der Bäume, um den Kontakt zu Pflanzen, um den psychologischen Effekt. Es gibt Kliniken, in denen Garten-Therapie betrieben wird. Ärzte berichten, dass Patienten dadurch schneller gesund werden, dass sie weniger Antidepressiva brauchen, weniger Schmerzmittel, dass psychosomatische Störungen zurückgehen. Ausgangspunkt für mein Buch "Der Biophilia-Effekt" war eine 1983 in Science erschienene Studie. Roger Ulrich, ein schwedischer Gesundheitswissenschafter, hat darin gezeigt , dass alleine der Ausblick aus einem Krankenhausfenster auf einen Baum dazu führt, dass Patienten nach Operationen schneller gesund werden und weniger Schmerzmittel brauchen als die einer Vergleichsgruppe, die auf eine Wand blicken. Diese faszinierende Studie ging damals um die Welt. Seither hat sich sehr viel in dem Bereich getan, allerdings haben diese Forschungen kaum die Öffentlichkeit erreicht.

Weshalb?

Es ist schwer, damit ernst genommen zu werden. Auch wenn es Ärzte gibt, die in der Therapie mit Naturerfahrung arbeiten, werden sie immer wieder als Esoteriker dargestellt. Obwohl sie aufgrund ihrer Aufzeichnungen dokumentieren können, wie wichtig die Natur für die Gesundheit des Menschen ist. Der Mensch ist ja nicht von seinem psychischen Leben zu trennen! Die Psychoneuroimmunologie liefert einen Beweis nach dem anderen dafür, dass psychische Prozesse körperlich messbar sind: in Form von Entzündungsreaktionen, von gestärkten oder geschwächten Immunsystemen usw. Psyche und Körper sind definitiv nicht voneinander zu trennen. So wissen wir aus Studien, dass der Parasympathikus, der Nerv der Ruhe, in der Natur aktiviert wird. Er ist Teil des vegetativen Nervensystems, Gegenspieler des Sympathikus, und für Entspannung zuständig. In Blutuntersuchungen stellte sich heraus, dass in Naturlandschaften Adrenalin, Cortisol und Noradrenalin, die drei wichtigsten Stresshormone, zurückgehen.

Einen zweiten Grund, warum Natur auf der psychologischen Ebene heilsam ist, haben Rachel und Stephen Kaplan, zwei Umweltpsychologen an der University of Michigan, durch die Theorie der Wiederherstellung der Aufmerksamkeit belegt. Demnach gibt es zwei Formen von Aufmerksamkeit: die anstrengende, also die gerichtete Aufmerksamkeit, wie wir sie zum Beispiel am Arbeitsplatz permanent erhalten müssen. Das zehrt an unserer psychischen Energie, irgendwann ermüden wir. Aber es gibt noch eine zweite Form der Aufmerksamkeit: die Faszination. Sie tritt besonders leicht in der Natur ein und regeneriert die Fähigkeit für die gerichtete Aufmerksamkeit: Das heißt, wir können wieder zu Kräften kommen, um dann im Alltag wieder Energien für die anstrengende Aufmerksamkeit zu haben.

Hinzu kommt das "being away", das Wegsein. Wie die Kaplans gezeigt haben, kann der Abstand von der Gesellschaft und ihren Zwängen den sozialen Druck vermindern. Die Natur verurteilt uns nicht. Wir dürfen so sein wie wir sind - dick oder dünn, groß oder klein, fleißig oder faul. In der Natur gibt es ganz viele Formen und Wesen, die nicht normiert sind und ihren Platz haben - wir profitieren davon, dass die Natur alle Wesen so sein lässt, wie sie sind.

Ist das nicht ein sehr idealisiertes Bild von Natur?

Ich weiß. Natürlich gibt es auch Gefahren in der Natur und wahrscheinlich würden wir heute im Urwald nicht überleben. Aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, die positiven Aspekte für unsere Gesundheit zu nützen.

Nicht ein jeder geht gerne in den Wald. Manche Menschen empfinden Wälder als gefährliche, unfreundliche Orte.

In einem sehr dichten Wald hat man vielleicht die Befürchtung, dass irgendwo eine Gefahr lauert. Dieser Aspekt kommt immer wieder, wenn ich vom Wald und seiner heilenden Wirkung spreche. Viele pochen regelrecht darauf: Das Gewusel etwa, wenn ich im Wald sitze und die Käfer an mir raufklettern, das kommt wie das Amen im Gebet. Fakt ist: Gefahren gibt es in der Stadt genauso, aber die werden in dem Zusammenhang gerne vergessen. Beim Thema "Biophilia" sind die Gefahren des Waldes jedenfalls total vernachlässigbar. Außerdem helfen auch lichte Baumbestände und Wiesen mit einzelnen Bäumen oder Parks.

Man weiß aber auch, dass das subjektive Wohlbefinden in einem Wald auch davon abhängt, welche Erfahrungen man vor allem als Kind gemacht hat.

Muss man als Kind schon diese Erfahrungen gesammelt haben oder - folgt man Edward Wilson - ist die Anlage zu positiven Erlebnissen genetisch vorhanden? Auch ein Mensch, der in der Stadt aufgewachsen ist, fühlt sich im Schanigarten oder in einem Park sicherlich wohler als am Wiener Gürtel. Ich denke, das ist kollektiv so.

Und wie gesund ist der Wald für Menschen, die dort arbeiten müssen?

Das ist eine spannende Frage. Anhand von Statistiken wissen wir, dass die Krebssterblichkeit von Menschen, die in bewaldeten Regionen leben, geringer ist als von Menschen, die in nicht bewaldeten Regionen leben. Und natürlich könnte ich auch einen Forstwirt mit einem Bauarbeiter vergleichen, beide leisten schwere körperliche Arbeit im Freien. Oder ich vergleiche einen Landwirt, der nur Ackerbau betreibt, mit einem Landwirt, der auch Forstwirtschaft betreibt. Da gibt es unglaublich viele Fragestellungen. Hoffentlich werden sich noch viele Mediziner und Biologen damit beschäftigen!