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Was vom Urwald übrig blieb

Von Christa Hager

Wald
© J. Kerviel

Im Rothwald, im Süden des Mostviertels liegt der größte Urwaldrest Mitteleuropas.


Der Mensch lebt vom Wald. Immer schon. Einst lieferte er Proteine in Form von Wild oder Fisch, später Holz, dann fossile Energieträger und heute wird er auch für Futtermittel, allen voran Soja, genutzt. Rodung bleibt bis heute die verbreitetste Form der Waldnutzung. 80 Prozent des ursprünglichen Waldes wurden in Europa bereits abgeholzt. Und auch in Österreich, das knapp zur der Hälfte aus Wald besteht, war der Mensch sehr gründlich. Nur mehr ein sehr kleiner Teil, nämlich 8.603 Hektar, das sind 0,15 Prozent der gesamten Waldfläche Österreichs, ist Naturwald. Ein solcher, so wild er auch erscheinen mag, ist aber nicht mit einem Urwald zu verwechseln. Unter letzterem versteht man Wälder, die seit der letzten Eiszeit ohne Einwirkung des Menschen bestehen. Wurde ein Urwald einmal zerstört, ist er für immer verloren.

Die Urwaldreste in Österreich sind winzig, verstreuen sich vor allem auf die niederösterreichischen und steirischen Kalkalpen und bestehen meist nur aus ein paar Fleckerln Wald. Ein Teil des Rothwalds im südlichen Mostviertel ist die große Ausnahme: Er ist der größte Urwaldrest Mitteleuropas und mit rund 400 Hektar ein bisschen größer als der 15. Bezirk in Wien. Allerdings dürfen nur wenige Besucher im Jahr im Rahmen von Exkursionen in diese Seltenheit hineinschnuppern.
Und zu riechen gibt es hier, wo alles auf allem wächst, einiges. Die vielen liegenden Baumstämme sind von Moosen und Flechten bedeckt, aus diesen wiederum treiben kleine Buchen und Fichten aus und dazwischen wachsen Stauden und Farne. Altersschwache, in sich zusammengestürzte Baumgestalten vermodern am feuchten Waldboden. Und die Düfte? Es riecht nach Pilz, nach Nadeln, holzig und harzig, nach frischem Humus, irgendwie grün.

© J. Kerviel

Kadaververjüngung

Groß, klein, dünn, dick, alt und jung, abgebrochen, vermodernd – eine unglaubliche Mischung an Holzgebilden, die sich da zeigt: Zerfranste Baumstammriesen bilden bizarre Formen, tief zerfurchte Rinden, die durch die vielen großen Baumschwämme aussehen wie verbeult, während Buchen, Fichten und Tannen meterhoch in den Himmel ragen und mit ihren Blättern und Nadeln dafür sorgen, dass es im Wald doch recht dunkel bleibt. Baumriesen werden hier bis zu 63 Meter hoch und rund sechs- bis siebenhundert Jahre alt.

Rippenfarn (Blechnum Spicant).
© J. Kerviel

Totholz liegt und steht herum, es speichert Wasser und ist für die unterschiedlichsten Organismen lebenswichtig. So beherbergt ein toter Baum wesentlich mehr Lebewesen als ein lebender, 95 Prozent aller Fichten des Urwaldes wachsen daraus. Stirbt ein Baum – das Absterben dauert oft mehrere Jahre – gibt er Kohlenstoff an die jungen Bäume, die auf ihm wachsen, weiter. Kadaververjüngung. Nachdem er abgestorben ist, steht der Baum meist bis zu hundert Jahre weiter da. Und an die tausend Jahre dauert es, bis er ganz verschwunden ist.

Zeit spielt im Rothwald keine Rolle, weder beim Wachsen, noch beim Sterben oder beim Verfaulen und Vermodern. Anhand von Bodenanalysen durch Pollen weiß man, dass dieser Teil des Rothwalds rund 6.000 Jahre alt ist und von menschlicher Einwirkung verschont blieb. Damit das auch so bleibt, ist das Betreten des Urwalds strengstens verboten. Der genaue Standort wird deshalb von der Verwaltung des Schutzgebiets nicht bekannt gegeben. Verbotsschilder und Zäune gibt es aber keine. "Wildnis kann man nicht einzäunen", sagt Ranger Hans Zehetner, der für die Verwaltung des Schutzgebietes arbeitet. Hin und wieder verirren sich Wanderer in das Gebiet. An die 30 werden jährlich von den Mitarbeitern des Schutzgebietes im Urwald ertappt, einige laufen in die Fotofallen, so manche haben sich verirrt und sind froh, dass ihnen jemand wieder den Weg hinaus zeigt. Aber so einfach verirrt man sich ohnehin nicht dorthin, man müsste schon eine stundenlange Wanderung durch ein Gebiet auf sich nehmen, das sich weder durch Markierungen noch durch Karten erschließen lässt.

Dass der Urwald überhaupt bestehen blieb ist auf verschiedene Umstände zurückzuführen.

© J. Kerviel

Streit unter Glaubensbrüdern

Die ersten schriftlichen Quellen über den Rothwald findet man ab 1330, als Herzog Albrecht II den Kartäusermönchen mehr als 30.000 Hektar Wald in den heutigen Gemeindegebieten von Gaming, Scheibbs und Lunz am See übertrug. Damals gab es noch 2.700 Hektar Urwald. 450 Jahre lang verwalteten die Glaubensbrüder das Gebiet, sie betrieben vor allem Holzwirtschaft für Brennholz und für Holzkohle für die Eisenerzindustrie. Dass der Urwald während dieser Zeit um nur 530 Hektar auf 2.170 Hektar schrumpfte, ist zum einen auf die Topografie zurückzuführen: Der Urwald liegt in einem schwer zugänglichen Kessel und seine Bäche führen in der Regel zu wenig Wasser um Baumstämme damit zu transportieren. Zum anderen schützte ein Jahrhunderte lang währender Streit mit dem steirischen Stift Admont um Wassernutzungsrechte den Urwald. Er verhinderte den Transport von Holz über Klausen durch das Gebiet der Steirer.

Josef II beendete den Streit. 1782 enteignete er den kontemplativen Kartäuserorden und stellte den Wald in staatliche Verwaltung. Als er 1825 privatisiert wurde, waren noch 1.520 Hektar Urwald über. Unter dem neuen Inhaber Graf Albert Festetics de Tolna schrumpfte er allerdings gewaltig: innerhalb von 44 Jahren um mehr als die Hälfte. Die intensive Rodung setzte sich nach dem Tod des Eigentümers fort, der Besitz ging 1869 an die Aktiengesellschaft für Forstindustrie: Sie ließ 420 Hektar stehen. Sechs Jahre später folgte der Bankrott, die Besitzungen kaufte einer der Aktionäre der Forstindustrie-AG, der Bankier Albert Rothschild.

Larve eines Borkenkäfers. Sie schmeckt angeblich nach Retsina.
© J. Kerviel

"Leichenhof"

Der Naturromantiker und Jäger Rothschild verfügte, die Urwaldreste sich selbst zu überlassen. Doch die Konservierung trug ihm Häme und Unverständnis ein. Naturwälder galten als unzivilisiert, als Sinnbild für ungezügelte Natur. So schrieb damals dazu ein Forstfachmann, es herrsche im Urwald Rothwald "… Leichenhof, gebrochene Kraft und Modergeruch, Verkommenheit" vor, " wie überall dort, wo die ordnende Hand des Menschen nicht hinkommt".

1938 "arisierten" die Nationalsozialisten Rothschilds Besitz, 1942 stellten sie den Urwald unter Naturschutz. Nach 1945 erhielt die Familie Rothschild ihren Waldbesitz zurück, einen Teil davon kauften die Bundesforste. Der Schutz des Urwaldes blieb aufrecht, 1997 wurde er offiziell und dauerhaft von jeglicher Nutzung ausgenommen. "Und so lange wir ein Rechtsstaat sind", sagt Ranger Zehetner, "wird das auch so bleiben!"

Wildnisgebiet

Seit 2003 gehört Österreichs einziges "Strenges Naturreservat" zur Kategorie 1a der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN). Nichts darf man ihm entnehmen, nichts hinzufügen. Auch der Mensch muss draußen bleiben, ausgenommen Besucher, Mitarbeiter der Schutzverwaltung und Wissenschafter.
Eingebettet ist der Urwald in das Wildnisgebiet Dürrenstein an der Grenze zur Steiermark. Das Gebiet ist ebenfalls geschützt, das Betreten streng geregelt: Es herrscht Wegpflicht, in vielen Teilen ist der Zutritt verboten. Das Wildnisgebiet dient als Pufferzone für den Primärwald und besteht aus Naturwäldern und solchen, die es noch werden sollen. Ältere Bestände im Osten konnten sich seit dem 17., 18. Jahrhundert halten, während aus den ehemaligen Fichtenmonokulturen der Forstwirtschaft wieder Wildnis werden soll.

Dass man wachsen lässt, was wächst, ist nur ein Kriterium für Wildnis. Hinzu kommen Abgeschiedenheit, Einsamkeit, das Fehlen von künstlichem Licht. Außerdem dient das Gebiet als Reservat für Organismen, die es außerhalb fast gar nicht mehr gibt. Hin und wieder verirren sich auch ganz ungewöhnliche Pflanzen dorthin. Die Gemeine Natternzunge zum Beispiel, ein besonderer Farn, der eigentlich nur in Feuchtgebieten wächst, mit einen Sporenstängel ähnlich dem Spitzwegerich und 480 Chromosomen. Doch auch andere Pflanzen, die man beim Durchwandern des Gebietes sieht, haben es in sich: der Weiße Germer etwa oder der Wolfs-Eisenhut, nicht umsonst Erbschaftskraut genannt: Beide sind hochgiftig, nicht einmal berühren sollte man sie.

Drehwüchsige Hölzer

Auch in diesen Wäldern fällt gleich der immense Unterschied zu Nutzwäldern auf: alte Bäume, krumme Bäume, kaputte Bäume: gespalten, abgebrochen, tot oder sterbend, übersät mit verschiedenen Flechten, Moosen, Pilzen und Baumschwämmen. Bäume ragen auf Felsen empor, manche Wurzeln schlängeln wie Mangroven aus dem Boden: Kadaververjüngung.

Teil des Dürrenstein-Gebiets.
© J. Kerviel

Und nirgendwo sonst sieht man so viele Holzgewächse, deren Stämme oberhalb des Bodens elegant geschwungen, in Fallrichtung verbogen sind, bevor sie gerade in die Höhe wachsen. Sichel- oder Säbelwuchs nennt man diese Form, die entsteht, wenn sich junge Bäume dem Gewicht des Schnees beugen müssen. Zwar sind diese drehwüchsigen Hölzer mechanisch viel belastbarer, aber schwer zu verarbeiten – Stämme wie diese wären für Sägewerke unbrauchbar. Doch hier werden sie nicht ausgesondert. Im Wildnisgebiet sind sie ganz normal.

Insekten, allen voran Schwebefliegenschwärme, brummen, dazu zwitschern Vögel, die man allerdings kaum sieht. Scheu ist auch das Gams- und Rotwild. Andere wilde Tiere wie Bären oder Wölfe etwa, gibt es keine mehr. "Die wurden verschwunden", sagt der Ranger. Dafür sind unter anderem der Dreizehensprecht, Alpenbock, das Auerhuhn oder neuerdings auch Habichtskäutze hier zuhause.

Die Schutzzone des Wildnisgebiets ist der perfekte Ort, sich zu verirren. Die Einstiege zu den schmalen Pfaden sind versteckt und unscheinbar, oft federt man auf weichen, von Laub oder Nadeln bedeckten Böden dahin, kriecht unter umgestürzten Bäumen hindurch, klettert über morsche Bäume oder wandert durch Buchenwäldchen und Zwergenwälder aus Fichten und Tannen hindurch, die Erinnerungen an Christbaumplantagen wecken. Tausende junge Nadelbäume wachsen hier, aber nur wenige erreichen das Erwachsenenalter, viele verlieren den Kampf ums Licht.

© J. Kerviel

Mal rauscht der Bach, mal rauscht der Wald. Es geht durch Dickichte von hohen, ausladenden Farnen, entlang struppiger Bärlapp-Teppiche und dazwischen immer wieder durch Wälder mit hochgewachsenen, alten Baumriesen. Ein besonderes Fichtenexemplar mit abgebrochenen Ästen, die wie Stacheln waagrecht aus dem Stamm schießen, dürfte an die 250 Jahre alt sein, an vielen Stellen ist die Rinde schon weggebrochen. Andere Bäume sind am Sterben, darauf weisen die vielen Baumschwämmen hin, bei so manchen hat der Borkenkäfer zugeschlagen. Doch dieser wird im Wildnisgebiet nicht bekämpft: "Wo kein Nutzen, da auch kein Schaden", sagt Hans Zehetner. "Ein vitaler Baum produziert so viel Harz, dass der Borkenkäfer ihm nichts anhaben kann. Ist ein Baum befallen, warnt dieser über das Wurzelsystem die anderen und der Käfer muss sich andere Gehölzer suchen." Der Wald braucht Störungen, sie sorgen für Stabilität und Resilienz.

Derzeit umfasste das Wildnisgebiet Dürrenstein eine Fläche von 3.500 Hektar, in den nächsten Jahren will die Steiermark mit 5.600 Hektar Naturwaldgebiet daran andocken. Doch auch trotz einer Erweiterung bleibt das Gebiet zu klein. Zu klein, um es vor einer regelmäßigen Störung durch den Menschen zu verschonen: Flugzeuge. Denn selbst eine Überflugverbotszone wie über den riesigen Wäldern Kanadas oder Skandinaviens etwa würde die regelmäßige Lärmverschmutzung von oben in dem kleinen Gebiet kaum eindämmen können.

www.wildnisgebiet.at