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Mythos Wald

Von Gabriele Folz-Friedl

Wald

Über Henry David Thoreau und Ernst Jünger, zwei literarische Verfechter eines radikalen Individualismus, die sich tief in die Wälder und ihre jeweiligen Vorstellungen davon zurückzogen. Ein Vergleich.


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Henry David Thoreau, dessen Geburtstag sich am 12. Juli 2017 zum zweihundertsten Male jährt, verfasste sein bekanntestes Werk, "Walden" (1854), nachdem er sich für zwei Jahre in die Einsamkeit der Wälder rund um den Waldensee in Massachusetts zurückgezogen hatte, um dort das "einfache Leben" kennenzulernen.<p>Noch heute ist die Strahlkraft der später in der Hippiebewegung so bezeichneten "Aussteigerbibel" ungebrochen und übertrifft an Bekanntheitsgrad und Wirkung ein Werk, dessen hier vergleichend und gegenüberstellend ebenfalls gedacht werden soll: es handelt sich um den knapp hundert Jahre später erschienen Essay Ernst Jüngers, "Der Waldgang" (1951). Ein Text, der, jedenfalls was dessen gesellschaftspolitische Dimension anlangt, meines Erachtens eine ungleich größere Sprengkraft aufweist als "Walden".

Für den Mythomanen Ernst Jünger (hier ca. 1970) war der Wald der Rückzugsort des Partisanen, des heimlichen Gegners eines herrschenden Systems.
© Ullsteinbild -Keystone

<p>Gleichwohl gibt es neben allen Unterschieden und auch trotz des fundamental verschiedenen Ansatzes der Autoren nicht wenige thematische Überschneidungen, vor allem aber eine Leitlinie, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist, da sie sich eines jahrhundertealten vielgestaltigen und offenbar unsterblichen Mythos bedient, nämlich des "Mythos Wald".<p>Das gesellschaftskritische Element im Werk Thoreaus ist unübersehbar, es lässt sich sogar eine grundsätzliche Widerständigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft feststellen, die in der Idee des zivilen Ungehorsams gegenüber der Staatsmacht gipfelt - was in diesem Fall jede Art von Widerstand einschließt, sofern er gewaltlos ist. Eine Haltung, von der sich in der Folge etliche historische Personen mit bürgerrechtlichen Anliegen, wie etwa Gandhi oder Martin Luther King, inspirieren ließen und daraus ihre Legitimation herleiteten.<p>

Nachbau der Hütte von H. D. Thoreau in der Nähe des Waldensees in Massachusetts.
© Creative Commons

Zurück zur Einfachheit

<p>Bei Thoreau führte dies in einer bestimmten Phase seines Lebens zu Steuerverweigerung und Gefängnis, da er auf solche Weise seinen Protest gegen die Sklaverei und die Kriegspolitik der USA gegenüber Mexiko ausdrücken wollte. Er machte deutlich, dass er seine Überzeugung - "Der wahre Platz eines freien Menschen in einem Verbrecherstaat ist das Gefängnis" - mit allen Konsequenzen in die Realität umzusetzen bereit war. Angeblich entgegnete er seinem Freund Emerson, der ihn finanziell auslöste, auf dessen entgeisterte Bemerkung, warum er hier (eben im Gefängnis) sei, lakonisch: "Und warum bist du nicht hier?"<p>Mit Ralph Waldo Emerson, dem Begründer des vom deutschen Idealismus beeinflussten amerikanischen "Transzendentalismus", zu dessen Kreis auch Persönlichkeiten wie Hawthorne und Walt Whitman zählten, verband Thoreau nicht nur die gemeinsame Ideenwelt, sondern auch eine enge Freundschaft.<p>Der Waldensee, an dessen Ufer Thoreau sein Blockhaus baute, lag auf einem Emerson gehörenden Grund und in der Nähe eines Dorfes, also nicht so weitab der Zivilisation, dass der Kontakt zu dieser völlig unterbrochen war, aber einsam genug, dass er hier seine Vorstellungen von der Rückkehr zur "Einfachheit" verwirklichen konnte. Emerson teilte diese Vorstellungen im Wesentlichen, ohne freilich ähnlich rigoros in deren Umsetzung zu sein - oder auch sein zu wollen.<p>Thoreaus Ethik basierte zwar auf dem Christentum, ohne dass er im eigentlich christlichen Sinn gläubig gewesen wäre - in einem anderen Sinn und auf seine Weise war er dies aber sehr wohl. Wie andere amerikanische Transzendentalisten war er Anhänger des Schelling’schen "Pantheismus", einer Theorie, die von einer grundsätzlichen Beseeltheit der Schöpfung, sowie der Gegenwart des sich in der Natur stetig fortzeugenden und immer neu manifestierenden Göttlichen ausging.<p>Er besaß also das, was in der deutschen Romantik gerne "Naturfrömmigkeit" genannt wurde. Als Idealist glaubte Thoreau an eine fortschreitende Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts durch die unermüdlichen diesbezüglichen Bestrebungen des Individuums, das ihm überhaupt wichtiger als jegliche abstrakte Gesellschaftstheorie war (worin er sich mit Jünger trifft).<p>

Elitärer Humanismus

<p>Dass zwei Weltkriege später, mit einhergehender gesellschaftlicher Verrohung und kaum für denkbar gehaltenen Verbrechen, Ernst Jünger die menschliche Natur mit weit weniger Optimismus betrachten musste, liegt auf der Hand. Jüngers Humanismus ist ein zutiefst elitärer, indem er - vor allem unter widrigen bis katastrophalen Umständen - ausschließlich dem aus der Masse herausgehobenen Einzelmenschen die mutige Bewahrung und Verteidigung des Humanen, notfalls unter Einsatz des Lebens, zutraute.<p>Eine zutiefst unzeitgemäße Einstellung, für die jedoch gute Gründe geltend zu machen sind, wie jeder Blick zurück in die Geschichte, nicht zuletzt auf etliche, noch nicht lange vergangene Diktaturen nahelegen könnte. Deswegen ist Jüngers "Waldgang" auch ein im eigentlichen Wortsinn radikaler, an die stets bedrohten Wurzeln menschlicher Existenz gehender, fundamental anders gewichteter Text, der Topos "Wald" aufgeladen mit Bedeutungen, die in Thoreaus Schrift nur gestreift werden. Was sich in Jüngers Text gänzlich abwesend zeigt, ist die liebevolle Stifter’sche Versenkung in die Natur, ins Nahe, Kleine, Schützenswerte, die Thoreau in der Muße seiner Abgeschiedenheit und in der Gnade einer knapp hundert Jahre früheren Geburt, sich noch unbelastet und unbefangen gönnen konnte.<p>Ist der Wald für Thoreau ein Ort des unmittelbaren Erlebens, der Naturbeobachtung, doch auch ein Ort, der die Produktion gepflegter philosophischer Gedanken fördert, die zuweilen sehr tief sein können, wohlformuliert und teilweise von berückender Poesie, zuweilen hingegen die biedermeierliche Betulichkeit von Kalendersprüchen streifen, so ist der Wald für Jünger neben aller zugrundeliegender Erlebnishaftigkeit (Jünger war leidenschaftlicher Naturbeobachter und Insektenkundler) vor allem ein theoretisches, ein philosophisches Konstrukt, das sich auch auf übertragene Phänomene beziehen kann.<p>

Zivilisationskritik

<p>Der Wald kann etwa der sogenannte "Großstadtdschungel" sein, kann überhaupt jeder Ort sein, der dem Individuum erlaubt, sich aus einer komplett verwalteten Welt in regellose, anarchische Situationen zu begeben, die die Möglichkeit bieten, die Karten grundsätzlich neu zu mischen. Er ist jedenfalls die Zuflucht dessen, der sich gejagt und ausgestoßen weiß, der Rückzugsort des Partisanen, des heimlichen Gegners eines herrschenden Systems - und Jünger weist darauf hin, welcher Doppelsinn diesem deutschen Wort "heimlich" innewohnt, welches im Heimlichen vertraut Heimisches und verstörend Unheimliches, Verborgenes mitschwingen lässt.<p>Aber für beide, Thoreau wie Jünger, ist der Wald der Ort des Heraustretens aus dem Gewohnten, das ganz Andere, der absolute Gegenpol zu den Zwängen einer wie immer gearteten Gesellschaft, der Ort des Archaischen, des Anti- oder vielmehr Vor-Zivilisatorischen, der grundsätzlichen Zivilisationskritik.<p>Konsequent zu Ende gedacht und ins Bösartige gewendet, kann so geartete Kritik auch in Zivilisationsfeindlichkeit umschlagen und pathologische Züge annehmen, wie etwa im Falle des als "Una-Bomber" bekannt gewordenen Ted Kaczynski. Dieser - hochintelligent und als Hochschulprofessor der Mathematik selbst ein Produkt der ihm im Laufe seiner Entwicklung immer verhasster werdenden Wissenschafts-Gesellschaft - richtete seinen Zorn vor allem auf deren technische Errungenschaften, bis er sich in eine einsame Blockhütte in den Wäldern zurückzog, um endgültig mit der Welt "da draußen" zu brechen.<p>Hier geriet er immer tiefer in allgemeinen Menschenhass und eine ins Krankhafte gesteigerte Aggression, bastelte (sein technisches Wissen und Geschick erlaubte dies schließlich) raffinierte Briefbomben und begann, diese an herausragende Protagonisten des einschlägigen Hochschulbetriebs zu versenden, bis man ihn schließlich aufspürte und verhaftete. Der Mythos Wald kann also auch Destruktion, Verirrung und Verstörung beinhalten, tiefe Ambivalenzen, die aber vielleicht in diesem Spannungsverhältnis gerade dessen Lebendigkeit und unerschöpfliche Fruchtbarkeit ausmachen.<p>Ist Thoreau ein später Nachzügler der europäischen Romantik mit einem Menschenbild, das jenem Rousseaus verpflichtet ist und so wenig Staat wie möglich einfordert, um das Individuum in seinem postulierten Naturzustand so wenig wie möglich zu behelligen und einzuschränken, so ist Jünger in diesem Punkt weit schwieriger einzuschätzen. Sein Menschenbild ist jedenfalls sehr viel pessimistischer, geht nicht vom zivilisationsfernen und deswegen "edlen" Wilden aus, es ist der Vorstellung Thomas Hobbes’ vom Menschen als dem "Wolf des Menschen" wesentlich näher, ohne jedoch dessen Konsequenzen daraus zu ziehen.<p>

Ausnahmemensch

<p>Auch Jünger ist daran gelegen, den Wirkungsbereich des Staates so weit wie möglich einzuschränken, aber nicht zugunsten und im Sinne allgemeiner Gleichheit, sondern indem er sich eindeutig für die bestimmende Kraft des in jeglichem Sinne herausragenden Ausnahmemenschen ausspricht. Ein aristokratisches Ideal also, nicht unähnlich dem Entwurf des von Nietzsche propagierten Übermenschen. Wie Nietzsche ist Jünger, anders als Thoreau, kein Pazifist, mit der Implikation, Gewalt, wenigstens als äußerstes Mittel, zu bejahen.<p>Der gegenwärtig herrschende Zeitgeist wird und muss daran Anstoß nehmen, zumal Jüngers Verhältnis zum Humanen im Laufe seines Lebens etliche Metamorphosen durchlief, und vor allem in seinen jüngeren Jahren nicht frei von Zwiespältigkeit war. Es lässt sich sogar aufgrund seines damaligen Ideals des unbürgerlich-aristokratischen Soldatentums zeitbedingt eine geradezu aggressive Ablehnung des Humanismus feststellen.<p>Anders als Thoreau ist Jünger kein Romantiker, auch wenn seine Sprache, der "hohe Ton", vielleicht dahingehend missverstanden werden könnte. Das Schwärmerische, ja Verstiegene in manchen Sequenzen seines Textes ist vielmehr in einem strengen, allerdings zuweilen anachronistisch wirkenden Sinne hymnisch und verliert dessen klare Strenge auch dann nicht, wo er, auf einem schmalen Grat balancierend, ständig von der Gefahr des Absturzes bedroht scheint.<p>Jüngers weltanschauliche Position ist wiederum wesentlich schwieriger dingfest zu machen als jene des amerikanischen Autors, der im Verlauf seines ziemlich kurzen Lebens von einmal getroffenen Positionen nie wirklich abwich, sondern vielmehr sein Bestreben darauf richtete, diese fortlaufend zu vertiefen und ihnen die eine oder andere Facette hinzuzufügen, weswegen er auch im Gesamten eindeutiger wirkt und als Identifikationsfigur für "naiv Suchende" auch viel geeigneter ist als sein deutscher Schriftstellerkollege.<p>In den Anfängen des Nationalsozialismus war Jünger ohne Zweifel anfällig für dessen Verführungen. Er erhoffte sich, in völliger Verkennung dessen ex-trem destruktiven Kerns, eine tiefgreifende, revolutionäre Erneuerung, eine bis ins Metaphysische reichende positive Umwälzung aller Werte, potenziell weit über Deutschland hinausreichend.<p>

Mythomane

<p>In der Folge allerdings wandelte er sich vom Sympathisanten zum entschiedenen Gegner jener - von ihm mittlerweile als solche erkannten - verbrecherischen Bewegung, wie etliche seiner Schriften, etwa der Roman "Auf den Marmorklippen", sowie seine Nähe zu Widerstandskreisen, belegen. Den verstörenden Erfahrungen, die er im "Dritten Reich" machen musste, ist auch der bedeutende Essay "Der Waldgang" zu verdanken.<p>In diesem erweist sich, was Jünger vor allem ist: ein Mythomane. Dem Glauben an eine allem Lebendigen zugrunde liegende, sich immer neu erzeugende mythische Kraft gibt er in dieser Schrift am deutlichsten Ausdruck, wo er den widerständigen, verborgen "heroischen" Einzelnen wiederholt gegen den "Großen Leviathan" (Thomas Hobbes), den alles verschlingenden Staat, positioniert. Er tut dies mit geradezu beschwörender Intensität, indem er den "Wald" als den Ort bezeichnet, der "alles, was uns mit zeitlicher Sorge bindet", zu lösen imstande ist, indem er, quer durch die Zeiten, alles heraufruft, was je Geschichte, Sage und Mythologie mit den Wäldern identifizierten.<p>Um dann auf sein eigentlichstes Anliegen zu kommen, nämlich, dass diese Kräfte eben nicht nur "in fernen Räumen und Vorzeiten zuhause sind, sondern vielmehr in jedem Einzelnen verborgen", und "ihm in Schlüsseln überliefert, damit er sich begreife in seiner tiefsten und überindividuellen Macht".<p>Jüngers Haltung ist von manchen als ein Sich-Zurückziehen in den Elfenbeinturm missverstanden worden, als eine "Absage ans Kollektiv", ohne das man letztlich nicht leben könne. Bei diesem (inneren) Rückzug handelt es sich jedoch vielmehr um ein Kräftesammeln, ein Innewerden, eine Klärung der eigenen Position, von der aus man dem Leviathan zumindest der Möglichkeit nach neu gestärkt gegenübertreten kann.<p>Mit seiner unzeitgemäßen Betonung des "heldischen" Einzelnen hat Jüngers Werk in seiner elitären Abgehobenheit gerade bei der Linken immer wieder für Irritation bis hin zu blankem Hass gesorgt, aber vielleicht wäre es in einer Zeit des Konformismus, in der abweichende Meinungen sofort diffamiert werden und das Individuum nicht mehr und nichts anderes als ein Produkt des Markenkonsums ist, eine tatsächliche "Bereicherung", sich auch mit einer so extrem anders gearteten Position auseinanderzusetzen.<p>

Einzelkämpfer

<p>Auch Thoreau wurde schon zu Lebzeiten mit Kritik konfrontiert. Stevenson nannte ihn aufgrund seiner Zivilisationsflucht einen Drückeberger, andere Zeitgenossen äußerten Zweifel, ob eine Gesellschaft Bestand haben könne, wenn alle sich so verhielten wie er. Es lag allerdings nicht unbedingt in seiner Absicht, seine Lebensweise zu einer allgemein verbindlichen Forderung zu erheben. Gerade die Zeit am Waldensee war für Thoreau eben jenes Innehalten, Sich-Besinnen, ein Selbstversuch, den er zu gegebener Zeit ja dann auch abbrach.<p>Sowohl Thoreau als auch Jünger waren widerständige Einzelkämpfer, so sehr sie im persönlichen und weltanschaulichen Bereich auch Antipoden gewesen sein mögen. Was den "Mythos Wald" anlangt, so haben sie beide ihre ureigenen Facetten jenem wahrscheinlich unsterblichen Topos abgewinnen können und ihm weitere Bedeutungen hinzugefügt. Und vielleicht haben uns solche extremen Individualisten auch und gerade heute noch etwas zu sagen, in einer Zeit, die ihr höchstes Ideal in einer falsch verstandenen Gleichheit aller Menschen sieht und vor nichts mehr Angst hat als vor dem Ungewöhnlichen, im geistigen Sinn Radikalen, Überdurchschnittlichen, Über-Normalen, vor dem geistigen Abenteuer, dem gefahrvollen, gewagten - auch bis hin zum abgründigen - Denken mit offenem Ergebnis.

GabrieleFolz-Friedl, geboren 1952 in Stuttgart, aufgewachsen in Köln und Friedrichshafen am Bodensee, Besuch der Akademie der bildenden Künste Stuttgart. Zeitweise in Sozialberufen tätig. Veröffentlichungen von Prosa und Lyrik in Anthologien. 2013 Veröffentlichung des Romans "Der Eisheilige" (Driesch).