Für den Mythomanen Ernst Jünger (hier ca. 1970) war der Wald der Rückzugsort des Partisanen, des heimlichen Gegners eines herrschenden Systems. - © Ullsteinbild -Keystone
Für den Mythomanen Ernst Jünger (hier ca. 1970) war der Wald der Rückzugsort des Partisanen, des heimlichen Gegners eines herrschenden Systems. - © Ullsteinbild -Keystone

Henry David Thoreau, dessen Geburtstag sich am 12. Juli 2017 zum zweihundertsten Male jährt, verfasste sein bekanntestes Werk, "Walden" (1854), nachdem er sich für zwei Jahre in die Einsamkeit der Wälder rund um den Waldensee in Massachusetts zurückgezogen hatte, um dort das "einfache Leben" kennenzulernen.

Noch heute ist die Strahlkraft der später in der Hippiebewegung so bezeichneten "Aussteigerbibel" ungebrochen und übertrifft an Bekanntheitsgrad und Wirkung ein Werk, dessen hier vergleichend und gegenüberstellend ebenfalls gedacht werden soll: es handelt sich um den knapp hundert Jahre später erschienen Essay Ernst Jüngers, "Der Waldgang" (1951). Ein Text, der, jedenfalls was dessen gesellschaftspolitische Dimension anlangt, meines Erachtens eine ungleich größere Sprengkraft aufweist als "Walden".

Nachbau der Hütte von H. D. Thoreau in der Nähe des Waldensees in Massachusetts. - © Creative Commons
Nachbau der Hütte von H. D. Thoreau in der Nähe des Waldensees in Massachusetts. - © Creative Commons

Gleichwohl gibt es neben allen Unterschieden und auch trotz des fundamental verschiedenen Ansatzes der Autoren nicht wenige thematische Überschneidungen, vor allem aber eine Leitlinie, deren Bedeutung kaum zu überschätzen ist, da sie sich eines jahrhundertealten vielgestaltigen und offenbar unsterblichen Mythos bedient, nämlich des "Mythos Wald".

Das gesellschaftskritische Element im Werk Thoreaus ist unübersehbar, es lässt sich sogar eine grundsätzliche Widerständigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft feststellen, die in der Idee des zivilen Ungehorsams gegenüber der Staatsmacht gipfelt - was in diesem Fall jede Art von Widerstand einschließt, sofern er gewaltlos ist. Eine Haltung, von der sich in der Folge etliche historische Personen mit bürgerrechtlichen Anliegen, wie etwa Gandhi oder Martin Luther King, inspirieren ließen und daraus ihre Legitimation herleiteten.

Zurück zur Einfachheit

Bei Thoreau führte dies in einer bestimmten Phase seines Lebens zu Steuerverweigerung und Gefängnis, da er auf solche Weise seinen Protest gegen die Sklaverei und die Kriegspolitik der USA gegenüber Mexiko ausdrücken wollte. Er machte deutlich, dass er seine Überzeugung - "Der wahre Platz eines freien Menschen in einem Verbrecherstaat ist das Gefängnis" - mit allen Konsequenzen in die Realität umzusetzen bereit war. Angeblich entgegnete er seinem Freund Emerson, der ihn finanziell auslöste, auf dessen entgeisterte Bemerkung, warum er hier (eben im Gefängnis) sei, lakonisch: "Und warum bist du nicht hier?"

Mit Ralph Waldo Emerson, dem Begründer des vom deutschen Idealismus beeinflussten amerikanischen "Transzendentalismus", zu dessen Kreis auch Persönlichkeiten wie Hawthorne und Walt Whitman zählten, verband Thoreau nicht nur die gemeinsame Ideenwelt, sondern auch eine enge Freundschaft.

Der Waldensee, an dessen Ufer Thoreau sein Blockhaus baute, lag auf einem Emerson gehörenden Grund und in der Nähe eines Dorfes, also nicht so weitab der Zivilisation, dass der Kontakt zu dieser völlig unterbrochen war, aber einsam genug, dass er hier seine Vorstellungen von der Rückkehr zur "Einfachheit" verwirklichen konnte. Emerson teilte diese Vorstellungen im Wesentlichen, ohne freilich ähnlich rigoros in deren Umsetzung zu sein - oder auch sein zu wollen.

Thoreaus Ethik basierte zwar auf dem Christentum, ohne dass er im eigentlich christlichen Sinn gläubig gewesen wäre - in einem anderen Sinn und auf seine Weise war er dies aber sehr wohl. Wie andere amerikanische Transzendentalisten war er Anhänger des Schelling’schen "Pantheismus", einer Theorie, die von einer grundsätzlichen Beseeltheit der Schöpfung, sowie der Gegenwart des sich in der Natur stetig fortzeugenden und immer neu manifestierenden Göttlichen ausging.

Er besaß also das, was in der deutschen Romantik gerne "Naturfrömmigkeit" genannt wurde. Als Idealist glaubte Thoreau an eine fortschreitende Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts durch die unermüdlichen diesbezüglichen Bestrebungen des Individuums, das ihm überhaupt wichtiger als jegliche abstrakte Gesellschaftstheorie war (worin er sich mit Jünger trifft).

Elitärer Humanismus

Dass zwei Weltkriege später, mit einhergehender gesellschaftlicher Verrohung und kaum für denkbar gehaltenen Verbrechen, Ernst Jünger die menschliche Natur mit weit weniger Optimismus betrachten musste, liegt auf der Hand. Jüngers Humanismus ist ein zutiefst elitärer, indem er - vor allem unter widrigen bis katastrophalen Umständen - ausschließlich dem aus der Masse herausgehobenen Einzelmenschen die mutige Bewahrung und Verteidigung des Humanen, notfalls unter Einsatz des Lebens, zutraute.

Eine zutiefst unzeitgemäße Einstellung, für die jedoch gute Gründe geltend zu machen sind, wie jeder Blick zurück in die Geschichte, nicht zuletzt auf etliche, noch nicht lange vergangene Diktaturen nahelegen könnte. Deswegen ist Jüngers "Waldgang" auch ein im eigentlichen Wortsinn radikaler, an die stets bedrohten Wurzeln menschlicher Existenz gehender, fundamental anders gewichteter Text, der Topos "Wald" aufgeladen mit Bedeutungen, die in Thoreaus Schrift nur gestreift werden. Was sich in Jüngers Text gänzlich abwesend zeigt, ist die liebevolle Stifter’sche Versenkung in die Natur, ins Nahe, Kleine, Schützenswerte, die Thoreau in der Muße seiner Abgeschiedenheit und in der Gnade einer knapp hundert Jahre früheren Geburt, sich noch unbelastet und unbefangen gönnen konnte.