Zum Hauptinhalt springen

Zu Ehren einer Pappel

Von Matthias Winterer

Wald
Stand ich als Kind unter der Pappel und blickte ihren Stamm empor, schien ihr Astgewirr unermesslich weit in den Himmel zu ranken.
© fotolia

Erinnerungen an einen Baum am Tag des Baumes.


Als mein Großvater um zehn Jahre jünger war als ich heute, pflanzte er einen Baum. Auf der Wiese vor seinem Bauernhof in der Mitte des Dorfes grub er ein Loch und setzte eine schmächtige Graupappel. Es war Anfang der 1950er-Jahre und er war Anfang 20. Mein Großvater zeugte zehn Kinder, die mit der Pappel heranwuchsen. Als mich seine älteste Tochter Mitte der 80er-Jahre zur Welt brachte, war die Pappel bereits ein mächtiger Baum. Ihre Krone überragte die Dächer der Höfe. Stand ich als Kind unter ihr und blickte den Stamm empor, schien ihr Astgewirr unermesslich weit in den Himmel zu ranken.

Die Pappel faszinierte mich. Sie zog mich an. Unzählige Male versuchte ich an ihrem Stamm bis zur ersten Astreihe zu klettern. Sah ich die älteren Kinder in ihrer Krone hocken, stieg Eifersucht und Verzweiflung in mir hoch. Ich konnte mich so weit in dieses Gefühl hineinsteigern, dass ich Kopfschmerzen bekam. Ich bekam die Äste einfach nicht zu fassen. Noch heute erinnere ich mich an den Schmerz, den die scharfkantig zerfurchte Rinde auf meinen nackten Fußsohlen und Zehen hinterließ. Immer wieder brachen die Rindenstücke ab, an denen ich mich festhielt. Die Borke der Pappel war porös. Ich scheiterte an ihr. Gnadenlos warf sie mich jedes Mal aufs Neue ab.

In der Schule prahlte ich mit der Pappel. Ich erzählte, dass man zehn Arme bräuchte um sie zu umfassen. In Wahrheit waren es wohl weniger. Dick war ihr Stamm trotzdem. Erratisch stand er da. Starr, wie eine graue, rissige Säule aus Beton, erloschen, beinahe tot. Die Krone über ihm war hingegen dynamisch. Sie veränderte sich mit den Jahreszeiten, trieb im Frühling die typischen raupenähnlichen Triebe, die meine Eltern "Kätzchen" nannten, was ich nicht verstand, weil es sich ganz offensichtlich nicht um Katzen handelte. Von unserem Haus am Rand des Dorfes wirkte sie im Sommer wie eine riesige grüne Sonne, die phlegmatisch über den Schindeldächern und Heuböden hing. Bei Unwettern peitschten ihre Äste rastlos und aufgewühlt hin und her. Ich beobachtete sie vom Fenster meines Zimmers aus und wunderte mich über ihre Elastizität. Nach solchen Stürmen lagen die knorrigen, fingerähnlichen Triebe der Pappel im ganzen Dorf verstreut. Es roch nach ihren nassen Blütenständen.

Die Pappel war das Zentrum des Dorfes. In ihrem Schatten feierten die Bauern Feste, tranken Most an Heurigentischen, diskutierten, stritten. In ihrem Schatten spielten wir Kinder tagelang Fußball. Die Wiese, auf der die Pappel stand, war an manchen Stellen von ihren Wurzeln durchbrochen. Die Oberseite der nackten Stränge war vom Mähwerk des Rasenmähers abgeflacht. Pappeln wurzeln horizontal und extrem knapp unter der Oberfläche. Die langen dünnen Wurzeln können Sprösslinge nach oben austreiben und so neue Bäume bilden. Im amerikanischen Bundesstaat Utah wachsen 47.000 Stämme ein und derselben Zitterpappel. Sie ist das schwerste und älteste bekannte Lebewesen.

In meiner Kindheit war die Pappel in unserem Dorf das größte mir bekannte Lebewesen. Ich konnte mir nur schwer etwas Gigantischeres vorstellen. Im kindlichen Wissensdrang war sie meine Vergleichsgröße für alles, was groß war. Für den Blauwal. Für das Mamut. Für den Stegosaurus. In meiner Erinnerung steht die Pappel für meine Kindheit. Kaum ein anderes Bild kann einen so starken Sog von Gefühlen entwickeln, wie das der Pappel vor dem Bauernhof meiner Großeltern. Sie ist mit so vielen Erinnerungen verbunden. In der Dämmerung jagte mir das Säuseln ihrer Blätter Angst ein. Fuhr ein Windstoß durch ihr Blattwerk, wenn ich im Herbst an ihr vorbeiging, begann ich zu laufen. Ich spüre den Schweiß der Sommer von damals von meiner Stirn tropfen, wenn ich an sie denke. Ich weiß noch genau wie der Holundersaft schmeckte, den ich nach dem Fußballspielen unter ihr trank. Ich kann dieses fantastische Gefühl erahnen, in der Dämmerung auf der Wiese unter ihr zu sitzen und zu wissen, morgen nicht in die Schule gehen zu müssen. Dieser Leichtigkeit, die nur Kinder in den Sommerferien verspüren, bin ich dann am nächsten, wenn ich an die Pappel denke.

Die Pappel steht aber auch für meinen Großvater. Oft stelle ich mir vor, wie er sie als junger Mann pflanzte. Ich denke darüber nach, ob er damals erahnen konnte, was ihre Existenz an genau diesem Ort 40 Jahre später für den Sohn seiner ungeborenen Tochter bedeuten würde. Wusste er, was ein Baum für Menschen sein kann, was er hier für seine Kinder, Enkel, die Dorfbewohner schuf?

Mein Großvater starb Anfang der 1990er-Jahre völlig unerwartet bei der Waldarbeit an Herzversagen. Die Pappel überlebte ihn wenige Jahre. Im Laufe ihres Lebens hatten sie viele Blitze getroffen. Sie zog sie an. Ihre Größe war ihr Verhängnis. Ein letzter Blitz spaltete ihren so unverwüstlichen Stamm. Große Teile ihre Krone wurden morsch. Mein Onkel musste die Pappel schließlich fällen. Als mir meine Mutter am Telefon davon erzählte, hatte ich Tränen in den Augen.