Gott wird Mensch - und keine Kamera dabei. Keine Reporter, keine Chronisten, keine Biographen, niemand schaut zu, zeichnet auf, schreibt mit. Die göttliche Welt-Mission bricht sich als weltliche Gott-Sensation die Bahn und verzichtet lange auf jede Eigen-PR. Erst als das Werk vollbracht ist, erst nachdem die letzten Szenen am Kreuz und leeren Grab quasi im Kasten sind, erwacht das Interesse am Davor.
Die Evangelien über das Leben von Jesus Christus sind von seinem Ende her motiviert. Das Serienfinale steht fest, begeistert das Publikum. Nach der Himmelfahrtsshow will es mehr, will es die ganze Staffel sehen, will es wissen, was bisher geschah, wie es anfing in Betlehem, wie es weiterging in Nazareth, Galiläa, in der Wüste, auf dem See, auf dem Berg, im Tempel, und, und, und - die Nachfrage ist groß, wird mit der Verbreitung des Glaubens an Christus immer größer, aber das Angebot an Jesus-Bio-Hagiographien ist beschränkt.
Vier Evangelien über die eine "Frohbotschaft vom Leben und Sterben unseres Herrn Jesus Christus" sind ausreichend, legen sich die Altvorderen der jungen Religion bald fest. Für die Welt genügen vier Himmelsrichtungen, argumentiert Irenäus, der Bischof von Lyon, da sollte auch für den Menschensohn ein Bio-Quartett reichen. Tut es aber nicht. Noch dazu, wo sich die vier autorisierten Evangelisten mehr für die Theologie und weniger für das biografische Drumherum des Hauptdarstellers interessieren.
Geheime Bücher
Der Evangelist Markus steigt erst mit der Taufe Jesu am Jordan in die Geschichte ein, da haben sowohl der Täufling als auch der Täufer bereits die längste Zeit ihres Lebens hinter sich. Und der Evangelist Johannes schwingt sich in seinem Jesus-Intro als theologischer "Überflieger" zu einem philosophischen Dreifach-Salto mit der Landung auf: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt."
Den einfachen Christenmenschen ist das zu steil, die sehnen sich nach theologischem Flachland, nach Geschichten mit Fleisch und Blut, ein bissl Sex, ein wenig Crime, wie es halt so zugegangen ist, als "er" unter uns geboren wurde, aufgewachsen ist, gewohnt, gearbeitet, gegessen, getrunken, gefeiert, gestritten, gebetet und genau so wie wir und doch ganz anders gelebt hat.
Die apokryphen Evangelien füllen diese Interessenlücke: "Bibloi apokryphoi" werden sie genannt, als verborgene, geheime Bücher tituliert. Das Erfolgsrezept werden achtzehnhundert Jahre später Magazine wie der "Spiegel" übernehmen und regelmäßig in ihren Weihnachts- oder Osternummern den "echten Jesus" und "was er wirklich sagte und wie er tatsächlich lebte" als Aufmachergeschichte ins Blatt heben. Ein anderes Beispiel des ungebrochenen Interesses am Thema ist die literarische Produktion an Jesus-Romanen samt kriminell-verschwörerischem Geheimwissen à la Dan Brown, oder ohne reißerischen Plot zum Beispiel bei Peter Henisch ("Der vergessene Messias"), Amos Oz ("Judas") und in der "Christus-Trilogie" von Patrick Roth.

Der deutsche Theologe Thomas Söding.
- © Christian Pulfrich, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons"Im Altertum bedeutete geheim: wichtig!", schreibt der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding in der Zeitschrift "Christ in der Gegenwart": "Viele apokryphe Evangelien sind mit einem hohen Anspruch geschrieben worden. Sie wollten mehr als die kanonischen Evangelien bieten. Sie wollten andere Blickwinkel öffnen und wider den Stachel löcken." Södings Artikel liest sich als Verteidigung der Apokryphen, die aufgrund theologischer Seichtheit oder zu blühender Phantasie abgehalftert werden.
Stimmt, die Apokryphen schafften es aus unterschiedlichen Gründen nicht in den Kanon der 27 Schriften des Neuen Testaments hinein. "Aber die Evangelien, die in die Bibel aufgenommen worden sind", korrigiert Söder eine weitverbreitete Meinung, "bilden nicht das Ende, sondern den Anfang der literarischen Gattung. Viele weitere Evangelien sind in der Geschichte des Christentums geschrieben worden, viele unter dem Namen von Aposteln. Diese Evangelien füllen die weißen Flecken auf der Landkarte des Neuen Testaments. Einen historischen Quellenwert haben sie nicht. Aber sie spiegeln die Volksfrömmigkeit vergangener Zeiten, die immer noch populär ist, gerade beim Blick auf das Jesuskind."
Dieses Kindheitsinteresse stillt vor allem das "Protevangelium des Jakobus". Das Werk ist nicht vor dem Jahr 150 entstanden, reklamiert aber die Autorenschaft des "Herrenbruders" Jakobus für sich. Der Verfasser kann damit aus eigener Anschauung erklären, wie er Jesu Bruder sei, wo dessen Mutter Maria doch laut kirchlicher Lehre vor, während und nach der Gottesgeburt Jungfrau blieb: Josef war Witwer, als er Maria zu sich nahm, stellt Jakobus klar; er und die anderen Jesus-Geschwister stammten aus der ersten Ehe des Nährvaters Jesu, der als Zimmermann die meiste Zeit des Jahres auf Baustellen auswärts arbeitete, was die "Josephsehe" einfacher machte.
Verbrannte Finger
Da sich das Werk der Verherrlichung Mariens verschreibt und bemüht ist, jeden Zweifel an ihrer Person und jeden Makel an ihrer Jungfräulichkeit auszuschließen, findet die Erzählung ihren Höhepunkt in einer gynäkologischen Untersuchung. Davor widmet sich Jakobus aber dem Lebenslauf der Gottesmutter. Beginnend bei Joachim und Anna, einem betagten kinderlosen Ehepaar, dessen Kinderwunsch von Gott erhört (Maria unbefleckte Empfängnis, 8. Dezember) und neun Monate später (Maria Geburt, 8. September) erfüllt wird. Maria ist ein frühentwickeltes Kind: Mit einem halben Jahr kann sie gehen, als Dreijährige kommt sie zur Priesterschaft in den Tempel und lebte "wie eine Taube mit ganz wenig Speise sich beköstigend, und empfing Nahrung aus der Hand eines Engels".

"Unbefleckte Empfängnis von El Escorial" von Bartolomé Esteban Murillo, ca. 1660–1665.
- © Museo del PradoViele Szenen aus dem Protevangelium und den anderen Apokryphen werden von den Künstlern späterer Jahrhunderte gerne aufgegriffen, gemalt, modelliert und mit den Requisiten der jeweiligen Epoche geschmückt. Das erklärt, warum viele Weihnachtskrippen in einer von Felsen begrenzten Umgebung stehen. Laut Jakobus kommt Jesus in einer Höhle zur Welt, die Geburtsgrotte als Herzstück der Betlehem-Kirche bewahrt diese Tradition bis heute.
Josef legte Maria in die bergende Kluft, ließ seine älteren Söhne als Bewacher zurück und suchte nach einer Hebamme. Da merkt er, die Erde steht still: Vögel, Arbeiter, Schafe, alle regungslos, dem Hirten, der sie treiben will, erstarrt die erhobene Hand ... "Man würde das Protevangelium unterschätzen, würde man denken, hier solle die Poesie die Physik aushebeln", kommentiert Theologe Söding den Stillstand: "Die Symbolik ist offenkundig. Die Geburt Jesu verändert alles. Sie berührt alles, die ganze Schöpfung. Das ist christlicher Glaube, der die Welt verändern will, weil er die Welt verändert sieht."
Glücklicherweise blieb eine vom Gebirge herabeilende Hebamme von der Wunder-Starre verschont. Als sie zur Schwangeren kommt, erfüllen eine Wolke und gewaltiges Licht die Höhle, "bis das Kind zu sehen war, und es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria". Die Zweifel der Hebamme an der göttlichen Niederkunft sind nach diesem "neuen Schauspiel" beseitigt. Doch eine andere Frau, Salome, fordert, "wenn ich meinen Finger nicht anlege und ihren Zustand untersuche, so glaube ich nicht, dass eine Jungfrau geboren hat".
Als Salome sprichwörtlich Hand anlegte, "stieß sie Klagerufe aus und rief: Wehe über mein Unrecht und meinen Unglauben! Denn ich habe den lebendigen Gott versucht. Siehe da, meine Hand fällt verbrannt von mir ab." Södings Exegese dazu: "Um auszudrücken, was sich einer rationalen Erklärung entzieht, braucht es die Sprache der Dichtung und der Liturgie. Auch die Jungfrauengeburt entzieht sich, macht Jakobus klar, einer gynäkologischen Untersuchung. Wer sie anstellen will, verbrennt sich die Finger. Deshalb ist sie aber kein Tabu. Es gilt, sie im Lichte Gottes zu betrachten, des Erlösers." Der sich der ungläubigen Salome erbarmt. Ein Engel gibt ihr den Tipp, das Jesuskind zu berühren, "und siehe, sogleich war Salome geheilt".
Das Muster wiederholt sich in den Geschichten über den heranwachsenden Jesus: In der "Kindheitserzählung des Thomas" zerstört ein Spielkollege den Staudamm von Jesus. Heiliger Zorn artet zur unseligen Attacke aus und das Gottkind lässt den Tunichtgut verdorren. Jesus anzurempeln, ist auch keine gute Idee, will man nicht umgehend tot umfallen; ein zorniger Lehrer kommt da noch glimpflich davon, den schickt Jesus nur in eine Ohnmacht. Ist die Wut verraucht, macht er aber eh wieder alles gut.
Wie bei Harry Potter
Und der Bub kann auch herzensgut sein: Fällt ein Freund vom Dach und stirbt, wird er von Jesus zum Leben erweckt. Auch aus Eigeninteresse, der Vorwurf lautete, Jesus habe ihn hinuntergestoßen. Holz- und Bauarbeitern hilft er am liebsten: Egal ob sie sich schneiden, hacken oder abstürzen, Klein-Jesus macht es heil. Und gerät seinem Vater einmal das Seitenbrett für ein Bett zu kurz, zieht es der Sohn des Zimmermanns in die richtige Länge.
Stellenweise erinnern die Apokryphen an Harry Potter, aber das gehört wahrscheinlich als fixer Bestandteil zum Weltrettungsgenre dazu. So wie die Potter-Bücher teilweise heftiger Kritik kirchlicher Kreise ausgesetzt waren, so hatten die Kirchenväter keine Freude mit den Kindheitslegenden und die Päpste verurteilten sie. Die Schrift "Pseudo-Matthäus" aus dem 9. Jahrhundert sollte da einen Kompromiss finden: Nicht gar zu üppig bei den Wundern, aber doch mit ein paar Jesus-Schmankerln Freude machen. Es ging auch darum, östliche Traditionen, wie die Geburt in der Höhle, mit westlichen Überlieferungen, wonach im Stall entbunden wurde, in Einklang zu bringen.
Pseudo-Matthäus greift in die Vollen und schafft damit die Grundausstattung jedes Krippenspiels: "Am dritten Tage nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus trat die seligste Maria aus der Höhle, ging in einen Stall hinein und legte ihren Knaben in eine Krippe, und Ochs und Esel beteten ihn an." Das Ensemble hat seinen Ursprung in einem Prophetenwort, wonach der Ochs seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn kennt.
Wie leicht und schwierig es ist, dieser Weihnachtslogik zu folgen, wird alle Jahre "urbi et orbi" aufgeführt. Oder wie Theologe Söding zum Christkind-Paradox schreibt: "In den Erzählungen kommt zur Sprache, was nur geglaubt werden kann: die Menschwerdung Gottes. Es kommt so zur Sprache, dass die Unglaublichkeit nicht verschwiegen, sondern aufgedeckt und die Geschichte des Glaubens als eine Geschichte der Skepsis entdeckt wird, die selbst Skepsis verdient."