Dicke, graue Wolken überziehen den Winterhimmel und obwohl es früher Nachmittag ist, ist es ziemlich dämmrig. Das Tageslicht versucht vergeblich, sich einen Weg zu bahnen, doch es reicht immerhin aus, um die Schneeflocken auszumachen, die aus den Wolken rieseln. Kein Windstoß verwirbelt sie, stört ihren sanft tänzelnden Weg zur Erde. Geräuschlos sinken sie zu Boden, Hunderte, Tausende, ja sogar Millionen von ihnen, und vielleicht wird aus ihnen bis zum nächsten Tag eine ordentliche Schneedecke, die im Sonnenschein glitzert wie ein Meer von geschliffenen Diamanten.
Ein Lied aus fernen Kindertagen fällt mir ein: "Schneeflöckchen, Weißröckchen / Wann kommst du geschneit / Du kommst aus den Wolken / Dein Weg ist so weit" (der Text wurde im Jahr 1869 von der Breslauer Kindergärtnerin und Lehrerin Hedwig Haberkern verfasst). Eine simple, aber eingängige Zusammenfassung dieser kleinen Wunderwerke, deren Faszination sich kaum jemand entziehen kann. Schneeflocken genauer zu betrachten oder gar ihre Struktur zu erfassen, bleibt uns aber in den meisten Fällen versagt, denn sie sind Geschöpfe der Kälte, gemacht aus gefrorenem Wasser, und Wärme, selbst die flüchtigste Berührung mit der Hand, lässt die Pracht vergehen, bringt sie wieder in den Aggregatszustand, aus dem sie geschaffen wurde – sie wird zu Wasser.
Perfekte Symmetrie
Jede einzelne Schneeflocke ist ein Kunstwerk, einzigartig in ihrem Aufbau und jede ist außerdem ein Unikat – keine gleicht der anderen.Ihr Kern besteht meist aus einem winzigen Staubteilchen, dem sogenannten Kristallisationskeim, an den sich feinste Tröpfchen kalten Wassers anlagern und gefrieren. Dieser Prozess setzt jedoch erst bei Temperaturen unter minus 12 Grad Celsius ein. Die dabei entstehenden Eiskristalle sind zuerst winzig, wachsen jedoch stetig und werden schwerer, wodurch sie langsam in Richtung Erde sinken. Aufgrund der besonderen Struktur von Wassermolekülen können nur sechseckige Formen (oder ein Vielfaches davon) mit Winkeln von 60 oder 120 Grad entstehen. Sind die Temperaturen wesentlich tiefer als 12 Grad Celsius, bilden sich Plättchen, sind sie höher, entstehen sogenannte Dendriten, also Schnee- oder Eissterne.
Herrschen starke Aufwinde, können sich die Kristalle mehrfach vertikal durch die Atmosphäre bewegen, dabei werden sie zum Teil aufgeschmolzen und kristallisieren wieder neu – aus den regelmäßigen Grundformen werden Mischformen. Liegt die Lufttemperatur nahe am Gefrierpunkt, fungieren kleine Wassertropfen als Kleber und aus den einzelnen Eiskristallen entstehen an einen Wattebausch erinnernde Schneeflocken. Je höher die Temperatur wird, desto größer werden die Flocken. Der mittlere Durchmesser von Schneeflocken beträgt rund fünf Millimeter, ihr Gewicht liegt bei vier Milligramm. Faszinierendes Detail: Die Symmetrie geht nie verloren.
Keine Eile
Dass Schneeflocken nur langsam fallen (mit etwa vier km/h), liegt an ihrer großen Oberfläche, aus der sich ein hoher Luftwiderstand ergibt. Und egal wie groß eine Schneeflocke ist, sie fällt immer gleich schnell, denn die Oberfläche der Flocken wächst proportional zu ihrer Größe und damit bleibt auch der Luftwiderstand konstant. Forscher haben außerdem herausgefunden, dass Schneekristalle dazu tendieren, mit ihrer flachen Seite nach unten zu fallen. Das widerspricht allerdings dem Umstand, dass sich Objekte grundsätzlich mit dem geringsten Luftwiderstand bewegen. Da die flache Seite der Schneeflocke aber nicht immer exakt parallel zur Fallrichtung orientiert ist, taumelt sie zur Erde, so als würde sie tanzen oder als wäre sie leicht betrunken – vielleicht vor Freude, endlich den grauen Wolken zu entkommen
So eine prächtige Schneelandschaft hat schon etwas für sich...
- © Csilla Zelko / GettyWeiße Pracht
Warum ist diese Pracht ausgerechnet weiß? Auch dafür sind Material und Struktur der Schneeflocken verantwortlich. Jeder einzelne Eiskristall ist transparent, dadurch kann das Licht aller sichtbaren Wellenlängen an den Grenzflächen zwischen den Eiskristallen und der umgebenden Luft reflektiert und gestreut werden. Ist die Menge an Eiskristallen groß genug und liegen sie locker gestreut, kommt es zu einer diffusen Reflexion – der Schnee erscheint weiß. Manchmal kann Schnee aber auch rötlich aussehen: Weht der Wind Staub aus der Sahara in die Atmosphäre, während dort gerade Schneeflocken gebildet werden, ist der Schnee rot; Meteorologen sprechen von Blutschnee. Und natürlich wird er viel zu schnell grau: Salzstreufahrzeige oder steigende Temperaturen bringen die Kristalle zum Schmelzen, der eingefangene Schmutz aus der Luft und das Staubteilchen, das ursprünglich den Kern bildete, kommen zum Vorschein und aus der weißen Pracht wird unansehnlicher Matsch.Faszination Glescther
Aus riesigen Schneemassen, die nicht schmelzen und aufgrund des stetig wachsenden Drucks von weiteren Schichten zu Eis werden, entstehen Gletscher. Wissenschaftlich heißt der Prozess der Ansammlung von Schneemassen Akkumulation, der Entstehungsbereich eines Gletschers wird als Akkumulationsgebiet (Nährgebiet) bezeichnet. Sind die oberen Schichten mächtig genug, werden die tieferen Schichten zusammengepresst – die langsame Verwandlung des Schnees zu Gletschereis beginnt. Der Druck in der Tiefe wird dabei immer höher, die in Hohlräumen eingeschlossene Luft wird herausgepresst. Aufgrund dieses geringen Luftanteils erscheint die Farbe des Gletschers meist bläulich, manchmal auch leicht grünlich.Bildlich festgehalten
Doch woher wissen wir überhaupt, wie Schneeflocken aussehen, wenn doch schon die flüchtigste Berührung einer menschlichen Hand reicht, sie zum Schmelzen zu bringen? Die Fotografie machte es möglich. Lange galt der Amerikaner Wilson Bentley als Pionier der Schneeflockenfotografie: Er hatte es am 15. Jänner 1885 geschafft, eines dieser filigranen Kunstwerke zu fotografieren. Doch ein Kellerfund in den 1970er Jahren in Schleswig-Holstein stieß ihn vom Sockel: Er förderte Schneeflockenaufnahmen vom Jänner 1879 des Naturforschers Johann Heinrich Flögel (1834–1918) zutage, die damit um sechs Jahre älter als die Bentleys sind. Nach dem neuesten Stand gilt Flögel somit als erster Mensch, dem es gelang, fotografische Aufnahmen von Schneekristallen anzufertigen. An den Rändern der Fotos notierte er die Aufnahmebedingungen wie Zeit, Temperatur und Vergrößerung. Seine Bilder liegen heute sicher verwahrt im Ahrenburger Stadtarchiv.Vom Knirschen und Krachen
Es hat die ganze Nacht geschneit, am nächsten Tag hüllt eine ordentliche Schicht Schnee die Landschaft in eine weiße Decke. Jeder Schritt erzeugt ein knirschendes Geräusch, für das es natürlich auch eine wissenschaftliche Erklärung gibt – wir sind wieder bei der Struktur der Eiskristalle. Ihre Verästelungen verbinden sich, sobald sie auf den Boden fallen, mit denen ihrer benachbarten Schneeflocken, und bilden winzige Hohlräume. Treten wir auf diese luftige Schnee-decke, brechen die Verbindungen – ein knackendes Geräusch entsteht. Ist es sehr kalt, sind die Eiskristalle steifer und fester und das Knirschen ist lauter. Liegt der Schnee dagegen schon länger oder wird es wärmer, gehen die Verästelungen und damit die Verbindungen untereinander verloren, die Eiskristalle werden nahezu rund und das typische Knirschgeräusch frischen Schnees verliert sich.
Während ich so dahinstapfe und die weiße Pracht genieße, fällt mir ein Witz ein: Treffen einander zwei Schneeflocken. Sagt die eine zur anderen: "Du, mir ist so langweilig. Was unternehmen wir?" Sagt die andere: "Ich habe eine großartige Idee – lass uns in die Stadt fliegen und Chaos machen!"
Der Witz ist zwar schon alt, aber er bringt mich immer noch zum Lächeln. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ich gerade nicht in der Stadt unterwegs bin und mich am Schnee einfach nur erfreuen kann