Es war einmal Ende der 80er Jahre. Da bot das Programm von Ö3 noch Platz für ein paar Nischen, wie man heute Radio-Angebote für spezielle Präferenzen nennt. Eine davon, der mitternächtliche "Nachtexpress", bediente gut und gerne die Indie- und Alternative-Pop-Klientel. Und es begab sich in einer dieser Sendungen, da bezeichnete die Moderatorin Angelika Lang Ian McCulloch als "verwirrtes Traummännchen".

Der Frontmann und kreative Kopf des wegweisenden Liverpooler Neo-Psychedelic-Quartetts Echo And The Bunnymen hatte eben sein erstes Solo-Album "Candleland" veröffentlicht. Verwirrt war daran eigentlich wenig - im Gegenteil: So vergleichsweise klar und gefasst hatte man McCulloch bis dahin noch nicht erlebt -, aber das "Traummännchen" führt tatsächlich auf die richtige Spur, steht das Fabelwesen doch symbolisch für die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Dass außerdem Langs damaliger Lebensgefährte, der vor eineinhalb Jahren verstorbene Musikjournalist Martin Blumenau, bei der Präsentation von McCullochs erstem Alleingang in der "Musicbox" bemerkte, "Weihnachten ist nicht mehr weit", rundete das Bild stimmig ab.

Mochte die Assoziation schon wegen des LP-Titels möglicherweise sowieso naheliegen - Kerzen sind schließlich für weihnachtlichen Glanz unabdingbar -, so bezeichnet sie jedenfalls stimmig die Strahlkraft dieses Werks: "Candleland" ist eine Weihnachtsplatte, in der das Wort "Weihnachten" bzw. "Christmas" nicht vorkommt. Eine der schönsten eines Genres, das es als solches eigentlich nicht gibt: Phantom-Weihnachtsalben sozusagen.

Gefühl von Winter

Phantom-Weihnachtsplatten gehören gewissermaßen exklusiv dem Hörer - im Unterschied zu den jährlich trillionenfach gefertigten, per nominem als solche ausgewiesenen Weihnachtsplatten, die hauptsächlich dazu da sind, die Gier der Industrie zu stillen.

Bei den Determinanten, die gute Phantom-Weihnachtsalben ausmachen, ist zunächst dingfest zu machen, was sie auf keinen Fall haben dürfen: etwa das kalkulierte Sentiment, das 95 Prozent aller "richtigen" weihnachtlichen Tonträger eignet. Zwar kann selbst das in Einzelfällen funktionieren, wie etwa bei manchen Tex-Mex-Weihnachtsplatten, die einfach emotionalen Kitsch so überdeutlich ausstellen, dass er zum Stilmittel wird, in der Regel aber verdirbt es jede Produktion wie ranzige Butter die Festtagskekse. Übrig bleiben da nur ein paar wenige Weihnachtsalben, die sich echte Tiefe, Intelligenz und Reflexion leisten, wie etwa zuletzt 2020 Calexicos bezaubernde LP "Seasonal Shift".

Dessen Titel benennt übrigens schon eine wichtige Stimmungskomponente für unser Geister-Genre: Ordentliche Phantom-Weihnachtsplatten vermitteln ein (natürlich nicht notwendigerweise mit Schnee konnotiertes) Gefühl von Winter - sengende Hitze, sonnige Strände und tropische Cocktails haben in ihnen nichts verloren ("blues skies - wrong season", heißt es auf "Candleland" an einer Stelle). Sie haben viel mit Lebensräumen zu tun und setzen eine ausgeprägte Erlebensfähigkeit voraus.

Phantom-Weihnachtsplatten müssen ergreifen und in emotionaler Wahrhaftigkeit eine festliche Aura generieren. Das Hineinfallenlassen besorgt der Hörer. Ian McCulloch hatte zur Entstehungszeit von "Candleland" einiges hinter sich: interne Verwerfungen bei den Bunnymen und die vorübergehende Auflösung der Band, den Tod seines Vaters wie auch des Bunnymen-Drummers Pete de Freitas. Offensichtlich brachte diese Periode McCulloch näher zu sich selbst (kein Werk von Dauer, wie später Ehescheidung und wiederkehrende Alkohol- und Drogenkrisen zeigten). Solchermaßen präsentiert sich "Candleland" als das Resultat eines Läuterungsprozesses.

Konzentrierte Ruhe

In "meiner Welt, meiner kleinen Welt", wo "das Leben ausgebreitet auf dem Boden" liegt, arbeitet McCulloch daran, mit sich ins Reine zu kommen: Zwischen Schatten der Vergangenheit - "von Anfang an war ich stolz zu fallen und ich fiel so tief hinein, dass ich mich ganz darin verlor" -, Selbstzweifeln und standfestem Selbstbehauptungswillen. Die Musik dazu generiert mit einfachen Mitteln eine schwebende, fast sphärische Schönheit: Rhythmisch weitgehend auf einen unaufdringlichen Drum-Computer gestützt und nicht von heftigem Getrommel niedergeknüppelt, lässt sie Synthies wie Nebelschwaden durch die Gegend wabern und findet gut ihr Auslangen mit McCullochs naturgemäß reduziertem, gleichwohl akzentuiertem und instinktsicher in das sparsame Setting eingepasstem Gitarrenspiel.

Mit dem erstaunlich zurückgenommenen und dabei doch zwingend eindringlichen Gesang vermittelt das alles eine konzentrierte Ruhe, als dürfe kein überflüssiger lauter Ton die Kontemplation stören. Als einzigen Luxus leistet sich die Platte ab und zu üppige Streicherarrangements. Das sind dann sozusagen (dramaturgisch) die Glanzlichter - um im Bild zu bleiben: wenn alle Kerzen leuchten -, die McCulloch "choked on the wonder of it all" zurücklassen.

"I am filled with wonder once again", singt in ähnlicher Verzückung Bill Fay auf seinem Album "Countless Branches" von 2020. War allerdings MCulloch bei "Candleland" gerade einmal 30 Jahre alt, ist der am nördlichen Ende Londons lebende Fay zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines sechsten (!) Longplayers bereits 76. Die Frequenz und Anzahl seiner Platten gibt hinlänglich Auskunft, wie er vom Pop-Business behandelt worden ist.

Nach zwei LPs Anfang der 70er von seiner Plattenfirma Deram - die notabene vorher schon den frühen David Bowie fallengelassen hatte - in die Wüste geschickt, hat er gleichwohl stets weiter Songs geschrieben und, nicht zuletzt durch den Zuspruch von Musikern wie Wilcos Jeff Tweedy, in diesem Jahrtausend ein offeneres Ohr für seine fein gesponnenen Songs gefunden. "Countless Branches" zeigt nun, dass sein langes und an frustrierenden Erfahrungen nicht armes Leben zwar seinem Äußeren und seiner brüchigen Stimme zugesetzt haben mag, ihn aber nicht im Geringsten verbittert hat.

Rührung & Respekt

Ein Staunen über - oft unscheinbare oder verborgene - Schönheit in seinem Umfeld zieht sich durch Fays Geschichten, die er entweder allein am Klavier oder mit ziemlich sparsamer Bandbegleitung vorträgt und die gerade in dieser einerseits bescheidenen und andererseits doch bedingungslos sich selbst vertrauenden Reduktionsform gleichermaßen Rührung und Respekt hervorrufen: Wenn Fay eine ungekannte Macht (oder vielleicht uns alle) aufruft, doch bitte seine Ringelblumen nicht sterben zu lassen. Wie die Bäume des Familienstammbaums Echos in seinem Kopf auslösen. Sein Bekenntnis zur Region, in der er aufgewachsen ist und bleiben wird, um "eine versteckte Wahrheit" zu suchen.

Dabei ist Fay weltvergessene Realitäts- und Krisenblindheit fremd, wenn er konstatiert, dass die Welt nicht sicher in menschlichen Händen ist und Menschen auch einmal Ketten anlegen kann. Eine Platte also von universaler menschlicher Weisheit, die animiert, ein Glas vom besten Rotwein zu trinken und in Ruhe - so viel Zeit sollte zu Weihnachten sein - zuzuhören. Möglicherweise wird dann vieles kleiner, was uns mächtig aufregt.

Biblische Inhalte müssen nicht notwendigerweise Weihnachtsstimmung hervorrufen. Bei Ry Cooders Album "The Prodigal Son" (2018) tun sie es aber schon: Für sein Plädoyer für die Gestrauchelten und die Kampfansage an die Reichen und Hoffärtigen bedient sich der musikalische Wurzelforscher, der sich längst auch als exzellenter Songwriter profiliert hat, ausgesuchter spiritueller Stücke aus dem Fundus von Gospel und Blues. Songs von Blind Willie Johnson, Blind Alfred Reed und Traditionals wie den Titelsong ergänzt er um drei exquisite Eigenkreationen zu einem in vielen Facetten schillernden Narrativ, in dem er unter anderem gegen Gentrifizierung zu Felde zieht, Reiche zu Demut und Mäßigung ermahnt und - besonders schön und stimmig - eine illusionslose Unterhaltung zwischen Jesus und Woody Guthrie erfindet. Mit Cooders grandiosem Gitarrenspiel und expressivem Gesang verbündet sich diese Erzählung zu einem feurigen Appell an die Menschlichkeit - viel eindringlicher, als das "Licht ins Dunkel" je leisten könnte.

Wenn bei Ian McCulloch und Bill Fay Innenperspektive herrscht und bei Ry Cooder der Blick auf die Gesellschaft (und ihre Bruchstellen) gerichtet ist, so kann Tom Pettys zweites Solo-Album "Wildflowers" von 1994 mit beidem aufwarten. Ähnlich wie "Candleland" dokumentiert "Wildflowers" einen Künstler im Umbruch. Pettys Ehe mit seiner ersten Frau Jane, der zwei Töchter entstammen, lag in den letzten Zügen. Obwohl sie erst 1996 offiziell getrennt wurde, nannte Petty, 2017 verstorben, "Wildflowers" gerne "mein Scheidungsalbum".

Trennungsschmerz und Bitterkeit spielen hier allerdings eine eher untergeordnete Rolle; die Zeichen stehen auf Aufbruch in eine unsichere Zukunft auf unsicheren Beinen. Ironisch formulierte Träume von Omnipotenz - "It’s Good To Be King" - setzen eine Art utopischen Kontrapunkt. Produzent Rick Rubin stellte indes, unter anderem mit dem Einsatz von Streichern und einem folklastigen Grundton, die musikalischen Signale auf Gelassenheit.

Forciert durch Pettys meist unaufgeregte Intonation oft wunderschöner Melodien verleiht das den Szenarios auf eigentümliche Weise einen Nachdruck, der mit aller Emphase dieser Welt nie und nimmer zu erzielen gewesen wäre. Zusammen mit den vor zwei Jahren nachgereichten Outtakes der Sessions, die der regulären "Wildflowers"-Platte in nichts nachstehen und seinerzeit einzig zeitökonomischem Kalkül zum Opfer gefallen waren, ergibt das einen umfassenden Einblick in die Herausforderungen des Lebens, inszeniert in der Form eines Märchens. Eine Wundertüte, wie das unsereins gern nennt. Und was passt besser zu Weihnachten?