Wien wächst. Seit Mitte der 1990er-Jahre strömen Jahr für Jahr immer mehr Menschen in die Donaumetropole. Demografen sind sich einig, spätestens 2030 ist die Zwei-Millionen-Einwohner-Marke geknackt. Wohnraum wird benötigt. Politiker müssen handeln, Bauträger und Investoren wittern ihre Chance. An allen Ecken und Enden wird emsig gebaut. Sowohl durch Verdichtung in den innerstädtischen Bezirken, als auch durch die großräumige Verbauung von Brachland an den Peripherien der Stadt. Doch mit dem Vorantrieb der Bautätigkeit werden zunehmend Bürgerinitiativen aktiv. Immer öfter rufen sie den Kampf um die letzten verbleibenden Freiräume aus.
Auch auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks Leopoldau soll ein neuer Stadtteil aufgezogen werden. Das Ringen um die Durchführung des Großprojekts ist exemplarisch für die Konflikte einer wachsenden Stadt. Laut Baustadtrat Michael Ludwig sollen bereits 2016 die ersten Bagger und Planierwalzen anrollen. Aber beginnen wir von vorne.
Riesige Brache
Jenseits der Donau, im nördlichen Floridsdorf – unweit der Landesgrenze zu Niederösterreich - befindet sich der Standort des ehemaligen Gaswerks Leopoldau. Zwischen 1911 und 1969 wurde auf dem rund 42 Hektar großen Betriebsgelände vorwiegend aus Kohle sogenanntes Stadtgas gewonnen. Es war eines der wichtigsten Produktionsbetriebe der kommunalen Wiener Gaswerke.
Heute liegt das Gelände vorwiegend brach. Lediglich auf einem kleinen Teil des Areals werden an die 200 Busse abgestellt. Die Betriebsgebäude und die Gasometer wurden im Laufe der Jahre abgerissen. Nur im Süden stehen noch die alten, gelben Wohn- und Verwaltungsgebäude des Gaswerks. Sie sind durch eine Allee alter Kastanienbäume erschlossen und stehen unter Denkmalschutz.
Kulturschaffende entdecken das Gelände für sich
Im Sommer 2011 wird eine Gruppe Kulturschaffender auf das brachliegende Grundstück aufmerksam. Sie interessieren sich für Stadtentwicklungsprozesse, schmieden Ideen, wie man das Areal für die Allgemeinheit nutzenbar machen könnte und träumen von einem neuen kreativen Stadtteil. "Dabei wollten wir kein zweites Museumsquartier, das einer Gruppe privilegierter Künstler vorbehalten bleibt und wo man horrende Mieten zahlt", sagt Theresa Schütz, eine der treibenden Kräfte der Gruppe. Vielmehr sollte der "Recht-auf-Stadt-Gedanke" des französischen Philosophen Henri Lefebvre im Vordergrund stehen. Es geht ihnen also verstärkt um Mitsprache und Partizipation.
Doch diese gestalten sich weitgehend schwieriger. Die Gruppe (sie nennt sich fortan "CIT-Collective") schreibt ein ausführliches Konzept zur Nutzung des Gaswerkgeländes und schickt es ins Rathaus. Dort stößt man erstmals auf verschlossene Ohren. Durch einen Irrgarten der Bürokratie versuchen die Aktivisten Informationen zu sammeln. Die Zuständigkeiten sind verworren. Die Stadträtin für Stadtplanung Maria Vassilakou scheint sich ebenso Verantwortlich zu zeigen, wie ihre Kollegen bei den Wiener Stadtwerken, deren städtische Tochterfirma WienEnergie, dessen Unterfirma WienEnergie-Gaswerke oder die neu gegründete Neu Leopoldau Entwicklungs GmbH, die zu 51 Prozent den Wiener Netzen und zu 49 Prozent der Wiener Standortentwicklungs GmbH gehört. Die brennende Frage - was die Stadt eigentlich mit dem Areal vorhat - kann von niemandem beantwortet werden.
Mühsame Beteiligung der Bürger
Was nun folgt, wäre eigentlich im Sinne des CIT-Collectives. Die Stadt Wien ruft einen Ideenwettbewerb zur Nachnutzung des ehemaligen Gaswerks aus. Die immer wieder propagierte Partizipation soll also tatsächlich umgesetzt werden. Doch für das CIT-Collective handelt es sich hier um reine Scheinpartizipation. Die Zeit wäre viel zu kurz, um konstruktive Ideen einzubringen, der Wettbewerb selbst sei "klammheimlich veröffentlicht" worden. Ein eigen initiierter Ideenwettbewerb hätte auf Knopfdruck mehr Leute erreicht als die Ausschreibung der Stadt. Und ohne Architekt oder Stadtplaner in den eigenen Reihen dürfe man ohnehin nicht mitreden. Außerdem definieren sie den Begriff Partizipation anders. Eine Stadt soll langsam wachsen. Nur so könne eine Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich gewehrleistet werden. "Kein Abriss und Neubau, sondern eine Annahme des Status Quo und dann viele kleine Veränderungen", ist auf der Website des CIT-Collectives zu lesen.
Die Stadt Wien sieht es anders. Sie spricht von dem größten kooperativen Planungsverfahren in der Geschichte der Stadt. Neben Experten der Stadt-, Verkehrs- und Landschaftsplanung seien Architekten, das Bundesdenkmalamt, politische Entscheidungsträger und nicht zuletzt Vertreter der Anrainer involviert gewesen. Doch der Verdacht liegt nahe, dass Partizipation als Feigenblatt, als PR-Instrument für den Planungsprozess verwendet wurde. Immerhin gelang es einer Gruppe engagierter Bürger nicht, trotz mehrmaliger Anläufe, Gehör zu finden.
Masterplan Partizipation
Auch Christoph Laimer ortet hier das Grundproblem der Stadt. Der Herausgeber der Zeitschrift für Stadtforschung "dérive" beschäftigt sich seit Jahren mit partizipativen Planungsprozessen. "Wenn Ideen zur Veränderung nicht von der Stadt kommen, sondern wirklich von den Bürgerinnen und Bürgern, tut sich Wien nach wie vor schwer", sagt er im Gespräch mit der Wiener Zeitung. "In einer Stadt muss es Strukturen geben, die es einem Bürger leicht machen, sich zu beteiligen." Diese Strukturen versucht die Stadt nun mit dem neuen Masterplan der Partizipation zu schaffen. "Wien bemüht sich, die Zeichen der Zeit wurden erkannt. Im Masterplan wird zum ersten Mal tatsächlich festlegt, in welchen Schritten ein Beteiligungsverfahren passieren soll", sagt Laimer.
Was auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks passieren soll ist jedoch längst entschieden. Es wird gebaut. In einer Presseaussendung gab Michael Ludwig erstmals das Vorhaben bekannt. 1.000 geförderte Wohnungen sollen auf insgesamt neun Baufelder neben Gewerbeflächen und Grünraum entstehen. Ein weiterer neuer Stadtteil wird um die denkmalgeschützten Altbauten aus dem Boden schießen. Die Bauträger des Vorhabens werden in den nächsten Monaten in einem kooperativen Wettbewerb ermittelt. Wie transparent dieser sein wird, wird die Zukunft zeigen. Initiativen wie das CIT-Collective zwingen die Stadt jedenfalls, ihre Planungspolitik - trotz Einführung des Masterplans der Partizipation - nochmals zu überdenken. Denn der Ruf nach wirklicher Mitsprache in einer wachsenden Stadt wird immer lauter.