Elke Rauth und Christoph Laimer geben das Magazin "dérive – Zeitschrift für Stadtforschung" heraus und veranstalten alljährlich das "Urbanize Festival" - ein internationales Festival für urbane Erkundungen. Mit der "Wiener Zeitung" sprachen sie über die Notwendigkeit urbaner Freiräume, Bürgerbeteiligung und die schleichende Privatisierung der Stadt.
"Wiener Zeitung": Neu gebaute Stadtviertel wie das Sonnwendviertel beim Hauptbahnhof wirken oft öde und monostrukturell. Fehlt ein Gesamtkonzept?
Christoph Laimer: Das hat vielfach strukturelle Gründe. Das Problem liegt darin, dass ein Bauträger ein Baufeld bekommt und ein anderer Bauträger das daneben. Es wird ohne viel zu kommunizieren nebeneinander gebaut. Darum sehen die Grundstücke oft so komisch aus, mit Entlüftungsschächten mitten am Spielplatz oder mit einem Zaun mittendurch. Wenn das der normale Ablauf ist, dann kommt dabei so etwas raus wie im Sonnwendviertel. Ich schätze, dass die Abstimmung unter den einzelnen Bauträgern zumindest in den Teilen, die schon fertig sind, schlecht funktioniert hat.
Elke Rauth: Wohnbaugenossenschaften bauen Wohnungen, aber alles, was über den Wohnbau hinausgeht, wird bereits schwierig. Etwa eine durchmischte Nutzung von Erdgeschosszonen oder das Zusammendenken von Arbeit, Wohnen und Räumen für Kultur und Soziales. Hier braucht es dringend ein Umdenken in Richtung "Stadthaus mit öffentlichem Raum" statt "Wohnhaus mit abgezäunter Gartenidylle". Schließlich geht es darum, "Stadt" zu bauen und die Voraussetzungen für die Entwicklung von urbanem Leben zu schaffen. Und Freiraum ist mehr als das, was überbleibt, nachdem das Haus gebaut worden ist.
Kann man Freiräume überhaupt planen?
Laimer: Die Tendenz, jeden Quadratmillimeter von vorneherein zu verplanen, erschwert die Entwicklung von Freiräumen. Es gibt ein irrsinniges Bedürfnis nach Kontrolle. Fragen zur Sicherheit und Haftung schränken etwa die Möglichkeit ein, Räume offen zu lassen. Gerade in einer Wachstumsphase der Stadt wird es massive Einwände geben, wenn man zum Beispiel im Sonnwendviertel irgendeine "Gstettn" bestehen lässt und schaut, was in den nächsten Jahren damit passiert. Aber man sollte experimentieren, Aneignungsprozesse zulassen, Änderungen ermöglichen und nicht zehn Jahre, bevor ein Haus steht, alles fixieren.
Rauth: Ungeplante Räume zu planen widerspricht der Idee von Planung natürlich in gewissem Maße. Gute Landschaftsarchitektur schafft aber Räume, die einerseits zur Nutzung einladen und anderseits möglichst vielfältige Nutzung offen lassen. Grundsätzlich muss man ein gewisses Grundvertrauen darin setzen, dass Menschen sich Räume selbständig aneignen, dass Orte eine eigene Identität entwickeln können. In diesen Bereichen tut sich die Stadt Wien noch sehr schwer. Am Beispiel der Seestadt Aspern, wo bis 2030 rund 20.000 Leute wohnen sollen, kann man das ganz gut sehen: Obwohl gerade einmal die ersten paar tausend Menschen dort angekommen sind, hat man nicht das Gefühl, dass hier noch groß Aneignung passieren kann - alles wirkt sehr definiert. Dabei weiß man heute nicht, wer dort einmal leben wird. Vermutlich werden viele junge Familien mit Kindern hinziehen, doch auch die Zielgruppe "Familie mit Kind" ist nicht homogen und hat unterschiedliche Nutzungsinteressen. Man müsste daher einen Modus finden, wie im Prozess Veränderung passieren kann. Das erfordert die Bereitschaft, Räume durch Alltagsnutzung entstehen und entwickeln zu lassen.
Welche Möglichkeiten haben Bürger, sich einzubringen?
Rauth: In der Vergangenheit wurde Partizipation gerne als Feigenblatt, oftmals als PR-Instrument für Planungsprozesse verwendet. Darum gibt es auch sehr viel Frustration bei diesem Thema. Denn wenn sich Bürger und Bürgerinnen beteiligen, ehrenamtlich Zeit, Ideen und Wissen investieren, aber die Machtfrage, also wer schlussendlich entscheidet, nicht gestellt wird, dann ist man weit davon entfernt, Partizipation ernst zu nehmen. Partizipation heißt nicht, mitentscheiden zu dürfen, ob etwas grün oder himmelblau gestrichen wird. Echte Partizipation heißt gemeinsam mit den Bürgern die Stadt zu entwickeln. Wien bemüht sich hier aufzuholen, man hat die Zeichen der Zeit scheinbar erkannt: Für Neubauprojekte gibt es seit Kurzem einen Masterplan Partizipation, der festlegt, in welchen Schritten und vor allem auch ab wann ein Beteiligungsverfahren passieren soll.
Aber in der gebauten Struktur tut sich Wien nach wie vor sehr schwer, wenn Ideen zur Veränderung nicht von der Stadtverwaltung kommen, sondern wirklich von den Bürgerinnen und Bürgern. Das sieht man bei der Donaukanalinitiative, der Bürgerinitiative Kaiserwiese oder bei FRISCH, eine Initiative, die für die Öffnung der Schmelz kämpft. Solche Initiativen machen in hohem Maß die Erfahrung, dass man mit den eigenen Anliegen kaum weiter kommt oder sogar total niedergebügelt wird, wie das bei der Kaiserwiese der Fall ist. Hier ist man weit davon entfernt, die Anliegen ernst zu nehmen.
Wer hat nun "Recht auf Stadt"?
Rauth: Idealerweise hat jeder Stadtbewohner "Recht auf Stadt", real sieht die Sache natürlich anders aus. Wien hat eine sehr paternalistische Tradition, die Stadt sorgt für ihre Bürger, will aber nicht zu viel Einmischung. Dem gegenüber steht eine aufblühende Kultur des "Stadt selber Machens", des Wunsches nach Beteiligung und nach viel direkterer Demokratie. Bürgerinitiativen müssen ein ungeheures Wissen mitbringen, um sich einbringen zu können. Das hat aber nicht jeder. Es muss daher ein Modus gefunden werden, damit man auch jenseits von hohem Bildungsstatus und weitreichenden Netzwerken seinen Bedarf an Stadtgestaltung formulieren kann. Dass man grundsätzlich mitreden kann bei der Stadtplanung muss also genauso eine Forderung an die Stadt sein, wie transparente Strukturen, um Beteiligung zu erleichtern. Umgekehrt müssen die Leute aufhören zu glauben, dass ihnen immer irgendwer das perfekte Leben serviert. Wir müssen alle wieder lernen, Dinge auch zu erstreiten und dass wir uns für Ideen, die wir umsetzen wollen, auch einsetzen müssen.
Wien wächst bis 2030 um 200.000 Einwohner. Wird sich die Stadt am Stadtrand ausdehnen oder im Zentrum verdichten?
Laimer: Prognosen sind immer sehr schwierig: Wenn man sich Einschätzungen von vor 20, 30 Jahren ansieht, so waren die fast immer falsch. Politische Ereignisse, wirtschaftliche Entwicklungen können sie über den Haufen werfen. Dass Wien derzeit und in den nächsten vier bis fünf Jahren stark wächst bzw. wachsen wird, ist völlig klar. Aber ich würde davor warnen, schon heute davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung bis 2030 fortsetzt. Das kann sein, muss aber nicht sein.
Rauth: Tatsache ist, dass Wien derzeit jährlich eine Kleinstadt integrieren muss. Das betrifft nicht nur den Wohnraum, sondern auch medizinische Infrastruktur, Schulen, Verkehr, Arbeitsplätze und vieles mehr. Wir brauchen daher schlaue Konzepte, um mit diesem Wachstum umzugehen. Natürlich gibt es noch Flächen, die neu bebaut werden können, aber Wien kann nicht endlos an die Ränder wachsen. Wien hat einen geschützten Grüngürtel. Den braucht die Stadt auch, um die Lebensqualität zu halten und dem Klimawandel begegnen zu können. In der Stadt gibt es nach wie vor unglaublichen Flächenverbrauch, einstöckige Supermärkte mit gigantischen Parkplätzen zum Beispiel. Die Frage ist, wie man kleinteilig im Bestand nachverdichten kann, ohne den Freiraum anknabbern zu müssen. Oft wird ja Grünraum gegen Wohnraum ausgespielt - ein Gegensatz, der real nicht haltbar ist, denn die Stadt braucht tatsächlich beides.
Täuscht der Eindruck oder gerät auch Wien zunehmend in die Hände privater Investoren?
Laimer: Seit den 1990ern kommt es in vielen Städten auch in Bezug auf Wohnbau zu Privatisierungen. Wobei Wien nicht wie andere Städte den Fehler begangen hat, soziale Wohnbauten zu verkaufen.
Wie in vielen anderen Städten, werden aber auch in Wien städtische Dienstleistungen an zum Teil eigene Tochterunternehmen ausgelagert. Das sieht man z.B. am Museumsquartier. Die Betreibergesellschaft ist eine Tochter der Stadt Wien, das heißt natürlich aber auch, dass dieser Raum kein öffentlicher Raum mehr ist sondern, dass es hier die Hausordnung des Museumsquartiers gilt. Ein Resultat daraus ist, dass die Kommerzialisierung stark zunimmt. Sie passiert kleinteilig, etwa durch Schanigärten oder Verkaufsstände. Dabei wächst die Bevölkerung und damit der Bedarf an Freiraum. Diese Flächen müssten öffentlicher und nicht-kommerzieller Raum bleiben und nicht privatisiert oder teilprivatisiert werden.
Und wie ist es mit Wohnraum? Kann man hier von Privatisierung sprechen?
Rauth: Durch die Globalisierung der Immobilienmärkte und verstärkt seit der Finanzkrise ist Stadtentwicklung international stark investorengetrieben. Wohnraum hat sich zum Handelsgut entwickelt und verliert in vielen Städten zusehends seine eigentliche Funktion der Deckung eines menschlichen Grundbedürfnisses. Immobilien gelten als sichere Investition und gewinnträchtige Spekulationsobjekte. Am globalen Finanzmarkt schwebt wahnsinnig viel Kapital herum, das irgendwo investiert werden muss. An diesem Spiel sind aber nicht nur professionelle Investoren beteiligt, sondern auch viele Einzelpersonen, die oftmals ererbtes Geld in Vorsorgewohnungen parken, weil es im Moment nirgends Zinsen gibt. Indirekt ist jeder am Immobilienpoker beteiligt, der eine private Pensionsversicherung abgeschlossen hat, weil solche Fonds ihr immenses Kapital sicher veranlagen müssen, ergo große Player im Immobiliengeschäft sind. In Wien kann man deutlich sehen, wie ein Bezirk nach dem anderen nach Verwertungsmöglichkeiten abgegraben wird: Im 1. Bezirk ist keine hohe Rendite mehr zu machen, weil der Mietpreis schon am Plafond ist, anders als beispielsweise im 10., 11. oder 15. Bezirk, wo das Verhältnis von heutigem Preis und zu erwartender, zukünftiger Mietrendite besonders hoch ist. Damit werden aber immer mehr Bezirke für viele Menschen unleistbar.
Was kann die Stadtregierung tun um Wohnen wieder leistbarer zu machen?
Rauth: Bei der Mietgesetzgebung kann eine Stadt wie Wien ihr Gewicht in die Waagschale werfen, um Verhandlungen auf Bundesebene zu beeinflussen. Denn die Befristung der Mietverträge ist ein massiver Preistreiber am Wohnungsmarkt - jede Neuvermietung erhöht die Rendite, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Hier muss dringend etwas passieren. Aktuell wäre auch die Regulierung des Geschäftsmodells Airbnb ein wichtiger kleiner Schritt, da durch neue Ferienwohnungen dem regulären Wohnungsmarkt immer mehr Wohnraum entzogen wird. Bei der Mietpreisentwicklung am Immobilienmarkt besitzt Wien nach wie vor Steuerungsmöglichkeiten durch den hohen Anteil an kommunalem Immobilienbesitz. Wien will neuerdings wieder Gemeindebau realisieren, eine Forderung die schon lange besteht. Um den Wohnungsmarkt deutlich zu beeinflussen, müsste das aber sicher in höherem Ausmaß passieren, als derzeit propagiert wird.
Also mehr eigene Bauprojekte?
Rauth: Das wäre sicher wünschenswert. Die Stadtpolitik würde wohl gerne, tut sich aber schwer. Wir haben die absurde Situation, dass das Zinsniveau für Städte derzeit bei nahezu null Prozent liegt, die Städte laut EU-Richtlinie aber keine Schulden mehr machen dürfen. Städte könnten also sehr günstig Geld aufnehmen, um Infrastruktur zu schaffen und in der Wirtschaftskrise antizyklisch zu investieren, dürfen aber nicht. Wien versucht hier gemeinsam mit anderen Städten Ausnahmen zu erreichen, was sehr wünschenswert wäre. Denn der derzeitige Ausweg heißt Privat Public Partnership, was in der Regel profitabel für die Privaten und teuer für die Städte ist. Schließlich wollen oder müssen private Partner - im Gegensatz zu einer Stadt - Profite machen.
Wie geht die Stadt Wien generell mit den Investoren um?
Rauth: Städte müssen aufhören, ihren Grund und Boden zu verkaufen. Das hat in Wien lange Tradition, um die Stadtkassen aufzufüllen. Städtische Liegenschaften sind aber eine äußerst begrenzte Ressource. Daher muss ein Modus gefunden werden, der die Gestaltungshoheit in stärkerem Ausmaß bei der Stadt lässt. Wien braucht auch in hundert Jahren noch Flächen, über die verfügt werden kann. Da gibt es - auch aus den Reihen der Politk - die Idee, nur mehr Baurechte zu vergeben. Relativ neu sind in Wien städtebauliche Verträge bei Bauprojekten. Es wird eingefordert, dass Investoren einen Teil ihres Widmungsgewinns der Stadt und ihren Bewohnern zurückgeben, etwa in Form von öffentlichen Einrichtungen, Freiräumen oder anderen öffentlichen Angeboten. Wie gut das Instrument greift, wird man in ein paar Jahren wissen.
Laimer: Es geht darum, dass die Nachbarschaft auch etwas von Investitionsprojekten hat und kein Nachteil daraus entsteht, dass etwas Neues hingestellt wird. Investoren werden damit verpflichtet in die lokale Infrastruktur zu investieren.
Aber ist das nicht auch nur ein Feigenblatt?
Laimer: Es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, der Investoren klar macht, dass sie nicht alles geschenkt bekommen. Wien ist mittlerweile hochattraktiv für Investoren, so gesehen ändert sich da schon etwas. Wenn man sich das Projekt Intercontinental und den Eislaufplatz anschaut: hoffentlich ist das nur eine Übergangsphase (lacht).
Rauth: Es sind langfristige Lernprozesse in der Stadtentwicklung. Viele Jahrzehnte lang galt Wien als schrumpfende Stadt. Man war froh um Investoren, um jeden, der kam und Geld brachte. Aus dieser Haltung entwickelte sich eine bestimmte Praxis im Verhältnis zueinander. Die Erkenntnis, dass Wien heute eine äußerst attraktive Stadt ist und daher eine starke Verhandlungsposition hat, scheint noch nicht ganz in der Alltagspraxis angekommen zu sein. Grundsätzlich gibt es aber Signale des Umdenkens.