Allesamt sollten die neuen Kopfbahnhöfe das Selbstbild Wiens als Zentrum der Monarchie und Mitteleuropas unterstreichen. So wurden im Gegensatz zu den Bahnhöfen anderer Großstädte wie London oder Paris technische Errungenschaften und lichtdurchlässige Stahlkonstruktionen hinter Prunkfassaden verborgen.

Darstellung der Macht war angesagt, ein monumentaler Baustil die Folge: repräsentative Fronten, aufwendig gestaltete und für die Öffentlichkeit nicht zugängliche private Salons für die Elite, große Hallen mit dicken Säulen aus Stein und schmückenden Ornamenten. Auch am Nordwestbahnhof verbarg die imposante Aufnahmehalle mit Triumphbogenmotiv die Sicht auf die Bahnhofshalle samt ihrer fabrikähnlichen Atmosphäre, wo es qualmte, stank und dröhnte. Eingestiegen wurde wiederum ums Eck, auf der Seite des Augartens, wo sechs Statuen mit Wappenschildern und Mauerkronen in den Himmel ragten. Sie wiesen auf Zielorte der Nordwestbahn hin: Hamburg, Bremen, Dresden, Berlin, Leipzig und Breslau. Vier Statuengruppen hielten die Wappen von Niederösterreich, Böhmen, Wien und Prag.

Das vorrangige Ziel des Bahnhofs war, die östlichen und nordöstlichen Gebiete Böhmens rund um Iglau, Deutschbrod oder Kolin vor allem wegen der Rohstoffe zu erschließen und eine Verbindung zu den Ost- und Nordseehäfen in Deutschland herzustellen. Letzteres erklärt auch, warum eine deutsche Bahngesellschaft der Hauptinvestor war.

"Norwegerhosen und Blusen"

Passagierverkehr war zweitrangig und als nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl der befördernden Personen rapide sank, fand dieser 1924 sein vorläufiges Ende. Die damit funktionslos gewordene Halle des Nordwestbahnhofs wurde als Depot für Lokomotiven, aber auch zum Skifahren genutzt. Indoor-Skiing würde man wohl heute dazu sagen, als 1927 in ihm eine überdachte, mit Bürsten- und Kokosmatten unterlegte Skiwiese eröffnet wurde.

Der "Schneepalast" samt Kulissen mit Fichtenhainen war weltweit die erste Skihalle mit Kunstschnee. Gekurvt wurde auf einer streng geheimen Schneemixtur aus Soda. Mittels Holzgerüst erzeugte man das nötige Gefälle, und neben der Piste lockten Sprungschanze und Rodelbahn mit motorbetriebener Beförderungsanlage. Sogar eine Empfehlung für die passende Bekleidung gab es: "Norwegerhosen und offene Blusen sind im Interesse des zuschauenden Publikums besonders empfohlen", betonte ein Sportjournalist, der in seinem Bericht unter anderem auch die Besonderheiten dieses Kunstschnees hervorhob. "Erst wenn das Gesicht nach vorne stürzt, dann schmeckt es nicht nach Wasser, sondern nach Soda. Dafür wird man aber nicht nass. Aber es juckt ein bisschen."

Die Eröffnung des "Schneepalastes" am 26. November 1927 hätte ein großes Schauspiel werden können, wäre da nicht ein gewisser Richard Strebinger, Mitglied der monarchistischen Wehrformation Ostara gewesen, der auf Karl Seitz ein Attentat verübte.

Der Wiener Bürgermeister hatte zuvor seine Eröffnungsrede gehalten, auf dem Heimweg wurde auf seinen Dienstwagen geschossen. Er blieb unverletzt. Mehr als ein Jahrzehnt zuvor hatten Pistolenkugeln jedoch genau getroffen: Der unter den Arbeitern beliebte und rhetorisch gewandte Sozialist Franz Schuhmeier wurde am 11. Februar 1913 in der Halle des Nordwestbahnhofs von Paul Kunschak, Bruder des christlichsozialen Politikers Leopold Kunschak, ermordet. Eine halbe Million Menschen war zeitgenössischen Berichten zufolge beim Begräbnis von Schuhmeier anwesend.

Gar keine Geschoße wiederum gab es im Frühjahr 1938, als gleich drei oberste Nationalsozialisten, Goebbels, Göring, Hitler, dort Propagandareden schwangen. Am 2. August 1938, eröffneten ferner Reichsstatthalter Seyß-Inquart und Gauleiter Odilo Globocnik am Nordwestbahnhof die antisemitische Wanderausstellung "Der Ewige Jude". Die Ausstellung wurde mit einem riesigen Plakat an der Außenfront des Bahnhofs beworben, bis Ende September hatten 350.000 Menschen die Ausstellung besucht.

Während des Zweiten Weltkriegs blieb am Nordwestbahnhof der Güterverkehr aufrecht, in den letzten Kriegsjahren wurde auch der Personentransport wieder aufgenommen. Außerdem wurde der Bahnhof als Lager benutzt, mitunter für zum Weitertransport bestimmtes Raubgut. So legen Quellen nahe, dass die offenbar damals bereits dort ansässige Speditionsfirma "Kosmos International" Raubgut von dort aus Wien wegschaffte.

Aus der Zeit gefallen

Bomben, Artillerie und Brände beschädigten während des Kriegs auch den Nordwestbahnhof. Diese Schäden waren aber nur indirekt dafür verantwortlich, dass die gründerzeitlichen Bahnhöfe Wiens demoliert wurden. Die meisten hätte man erhalten können. Dass sie dennoch aus dem Stadtbild verschwanden, lag zum einen an mangelndem Interesse, zum anderen waren die Bahnhöfe an ihre Kapazitäten gestoßen. Bereits vor der definitiven Stilllegung des Personenverkehrs am Nordwestbahnhof im Jahr 1959 war das Hallendach schon demontiert und der Bahnhof Stück für Stück abgetragen worden. Die wenigen Züge, die noch verkehrten, wurden quasi auf offener Strecke abgefertigt.

Heute holt sich dort auf den teils ungenützten Flächen die Natur zurück was geht: Ein Laubwäldchen aus Ahorn, Akazie, Pappel, Nuss oder Holunderstrauch weitet sich am Westrand aus, Gräser, Sträucher, Blumen fressen sich durch die morschen Bahnverstrebungen durch, aber auch seltene Pflanzen sind dort zu finden, wie zum Beispiel die Hillman-Rispenhirse. Hasen hoppeln über rostige Schienen, Krähen sammeln sich auf den flachen Dächern, Stieglitze schwärmen aus, Rotschwänzchen hüpfen zwischen den Waggons umher und Meisen pfeifen von den Bäumen. Doch das Gezwitscher geht inzwischen unter, übertönt von den lauten Abrissarbeiten am Gelände.