Zum Hauptinhalt springen

100 Jahre Fluch

Von Hülya Tektas

Gastkommentare
Hülya Tektas lebt als Journalistin und Soziologin in Wien.

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In seinem Roman "Angst ohne Zähne" beschreibt der kurdische Autor Helim Yusiv aus Syrien die Auswirkungen des Sykes-Picot-Abkommens auf seinen Protagonisten. Ganz im Stile der absurden Literatur sucht Musa, ein syrischer Kurde, die beiden Geister Sykes und Picot auch im europäischen Exil. Die Leser werden Zeugen, wie die krankhafte Beschäftigung sich zur Paranoia entwickelt und ihn schließlich vernichtet.

Mister Sykes und Monsieur Picot werden von der Bevölkerung auch 100 Jahre nach dem geheimen Abkommen für die Übel in der Region verantwortlich gemacht. Ohne den damals schon vorhandenen diversen ethnischen und religiösen Ausprägungen und Konflikten Beachtung zu schenken, legten die beiden Herren seinerzeit die Grenzen der Länder des heutigen Nahen und Mittleren Ostens fest, die seither stetige Konfliktherde sind.

Die Überwindung der damals willkürlich geschaffenen Ordnung hätte möglicherweise nicht allzu lange gedauert, wäre die geografische Lage dieser Länder für die großen Mächte dieser Welt nicht von so großer strategischer Bedeutung. Nicht zuletzt die Einmischung der beiden Imperialmächte England und Frankreich erzeugte den arabischen Nationalismus, und die nur allzu oft mit den Begriffen "Modernisierung" und "Verwestlichung" gerechtfertigten Angriffe auf die orientalischen Kulturen und Religionen können sogar als Ursache der heutigen aggressiven islamischen Ideologien betrachtet werden. Weder die Monarchie noch die Diktatur oder die von den USA unternommenen "Demokratisierungsversuche" waren den Menschen in der Region eine große Hilfe.

Die Chance, die der "Arabische Frühling" 2011 mit sich brachte, wurde bedauerlicherweise vertan. Das Zerschlagen einer Herrschaft, ohne vorher überlegt zu haben, welchem neuen System sie weichen sollte, hat ein Machtvakuum geschaffen, das gerade von vielen nach Belieben zu füllen versucht wird. Der IS, einer der schlimmsten Feinde der Menschheit, hat weite Teile von Ländern wie dem Irak und Syrien unter seiner Kontrolle und ist in weiteren arabischen Ländern aktiv. Zurzeit ist man damit beschäftigt, den IS zu eliminieren - was danach kommt, ist jedoch nicht von großem Interesse. Noch mehr Übel scheinen den gegenwärtigen zu folgen. Der Nahe und Mittlere Osten birgt noch weitere heftige und gewaltige Konflikte in sich.

Wer wen warum tötet, ist für die breite Masse der Europäer irrelevant, genauso wie die Tatsache, dass diese Kämpfe stellvertretend für die großen Mächte geführt werden. Die tausende Kilometer von den Toren Europas entfernt stattfindenden blutigen Kriege werfen aber auch einen Schatten auf Europa: Bomben explodieren mitten in Europa. Der Versuch der Menschen, aus ihrem Schicksal, aus der "verfluchten" Region, zu entkommen, scheitert gewaltig. In Europa geht der Kampf weiter. Dieses Mal gegen die Fremdenfeindlichkeit.

Gleichzeitig blühen im Nahen Osten die brutalen Ideologien der Islamisten auf, radikale Ideen eifern mit noch radikaleren um die Wette. Und die beiden Geister Sykes und Picot verfolgen auch 100 Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen beim Arrangement um den Nahen Osten die Bevölkerung des Orients.