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100 Jahre Nordirland: Schwere Last im Brexit-Poker

Von Dieter Reinisch

Reflexionen

Mit dem "Government of Ireland Act" wurde im Jahr 1920 die Gründung Nordirlands besiegelt. Nun könnte der EU-Austritt Großbritanniens alte Wunden aufreißen.


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In weniger als zwei Wochen wird die Übergangsphase enden und somit das Vereinigte Königreich endgültig die EU verlassen. Bis zuletzt war einer der Streitpunkte der Status von Nordirland und die Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland. Denn durch die irische Insel wird sich die einzige Landesgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ziehen.

Wenn am 31. Dezember das Vereinigte Königreich die EU verlässt, ist es fast auf den Tag genau 100 Jahre her, dass durch ein Gesetz die irische Insel geteilt wurde. Am 23. Dezember 1920 hatte das britische Unterhaus für den Government of Ireland Act gestimmt. Darin wird die Schaffung eines Parlaments für Südirland in Dublin und eines für Nordirland in Belfast festgesetzt.

Nationalbewegung

Die Wurzeln für die Teilung der Insel gehen auf das 17. Jahrhundert zurück, als die englische Krone loyale Presbyterianer aus Schottland im Nordosten Irlands ansiedelte. Durch diese Siedlungspolitik wurde der Grundstein für die heutige, sich als Ulster-Scots bezeichnende protestantische Bevölkerung in Nordirland gelegt. Ab dem 18. Jahrhundert etablierte der sich entwickelnde Kapitalismus ein protestantisches Bürgertum in und um Belfast. Entlang dem Fluss Lagan entstand eine florierende Leinenindustrie. Das wohlhabende Bürgertum besaß in der Monarchie jedoch keinen politischen Einfluss und wandte sich, beeinflusst von den Ideen der amerikanischen und französischen Revolutionen, dem Republikanismus zu.

Wie in anderen europäischen Ländern, so etwa Deutschland, Italien und Polen, entwickelte sich im 19. Jahrhundert auch in Irland eine starke Nationalbewegung. Ideologisch orientierte sich diese an den nach Unabhängigkeit von Habsburg strebenden Ungarn. Nach der verheerenden liberalen Politik der britischen Regierung während der Hungersnot der 1840er Jahre wuchs das Nationalbewusstsein der Bevölkerung rasant an. Es entstanden in allen Teilen der Insel nationalistische Vereine zur Förderung des gälischen Sports, der Kultur und der irischen Sprache und Literatur.

Die Insel wurde damals direkt aus London regiert, und so gründete 1870 Isaac Butt die Home Government Association. Sie wurde unter dem Namen Home Rule Movement eine Massenbewegung. "Home Rule" bedeutete die Schaffung eines eigenständigen Parlaments in Dublin. 1886 brachte daraufhin Premier W. E. Gladstone das erste Gesetz zur Schaffung eines Parlaments in Dublin in das House of Commons ein. Diese erste Home Rule Bill scheitere. Auch die zweite wurde vom Unterhaus nur sieben Jahre später abgelehnt. Der neue Premier, H. H. Asquith, in der Hoffnung, die Unabhängigkeitstendenzen in Irland zu dämpfen, brachte im April 1912 die dritte Home Rule Bill ein. Dieser stimmte das Unterhaus zu, doch verzögerte die Ablehnung des House of Lords ihr Inkrafttreten. Erst am 18. September 1914 wurde sie Gesetz. Aufgrund des Weltkrieges wurde sie sofort und bis zu dessen Ende ausgesetzt. Schlussendlich trat sie nie in Kraft.

Zu dieser Zeit hatte sich das Verständnis von Home Rule unter radikalen irischen Nationalisten bereits weiterentwickelt. Ein eigenes Parlament in Dublin war ihnen nun zu wenig. 1904 hatte der Politiker Arthur Griffith sein Hauptwerk "Die Wiedergeburt Ungarns: Eine Parallele für Irland" veröffentlicht. Darin fordert er die Umwandlung des Vereinigten Königreichs zu einer Doppelmonarchie bestehend aus England und Irland.

Bewaffnung

Als Vorbild diente ihm der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Bereits im Jahr 1905 gehörte Griffith zu den Gründern der neuen Sinn-Féin-Bewegung, zu dessen wichtigsten Politikern er bis zu seinem Tod 1922 gehörte. Sinn Féin war damals also noch keine republikanische Partei, zu einer solchen wurde es erst 1917.

Das erste Viertel des 20. Jahrhunderts war in Irland von Arbeiterkämpfen und einer militanten Suffragettenbewegung geprägt. Viele der Gewerkschaftsaktivsten und Frauenrechtlerinnen waren auch aktive Republikaner. Der Weltkrieg beschleunigte die dekolonialen, nationalen und Klassenkämpfe, die Ereignisse begannen sich zu überschlagen. Radikale protestantische Unionisten bewaffneten sich und gründeten die Ulster Volunteer Force, um notfalls mit der Waffe gegen Home Rule zu kämpfen. Dagegen organisierten sich auch radikale Nationalisten und gründeten die Irish Volunteers, die wenige Jahre später zur Irischen Republikanischen Armee, IRA, wurde. Diese und andere Republikaner riefen zu Ostern 1916 die unabhängige Republik Irland aus, doch der darauffolgende Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Die Repression gegen die Aufständischen entfachte eine Sympathiewelle für Sinn Féin. Die Partei gewann 80 Prozent der irischen Sitze bei den Parlamentswahlen im Dezember 1918. Darunter war auch die erste Frau, die ins britische Parlament gewählt wurde: Constance Markiewicz.

Unabhängigkeitskrieg

Anstatt jedoch die Plätze in Westminster einzunehmen, konstituierten sich die gewählten Sinn-Féin-Abgeordneten am 21. Jänner 1919 als ein unabhängiges Parlament, dem Dáil Éireann, in Dublin. Nach britischem Recht war das ein illegaler und somit revolutionärer Schritt, der dem noch inexistenten unabhängigen Irland ein legislatives Fundament gab. Am selben Tag griff eine IRA-Einheit die britische Polizei Royal Irish Constabulary im ländlichen Soloheadbeg in der Grafschaft Tipperary an. Bei dem Hinterhalt starben zwei Polizisten. Die beiden Ereignisse in Dublin und Tipperary markierten den Beginn des fast zwei Jahre andauernden irischen Unabhängigkeitskriegs.

Die Spannungen zwischen irischen Nationalisten und probritischen Unionisten nahmen weiter zu. Aus Angst vor einer möglichen Unabhängigkeit Irlands gründeten die Unionisten bereits im Oktober 1920 eine eigenständige Polizeieinheit für den Nordosten des Landes, die spätereRoyal Ulster Constabulary.  Im Dezember 1920 versuchte die britische Regierung, mehr in einem Akt der Verzweiflung, das Wegbrechen der irischen Insel vom Königreich zu verhindern. Dazu wurde am 23. Dezember der Government of Ireland Act im Parlament eingebracht. Das Gesetz sollte einen Kompromiss im Krieg ermöglichen. Es wurde als vierte Home Rule Bill bekannt, sein tatsächlicher Name war jedoch: Gesetz zur besseren Regierbarkeit von Irland.

Das Gesetz besagt, dass es zwei Parlamente in Belfast und Dublin geben sollte. Der Großteil der Insel, 26 Grafschaften im Süden, Westen und Nordwesten, erhielt unter dem Namen Südirland Home Rule. Nordirland, bestehend aus den nordöstlichen Grafschaften Antrim, Armagh, Derry, Down, Fermanagh und Tyrone, bekam ein eigenes Parlament in Belfast, blieb jedoch als eigenständiger Staat Teil des Vereinigten Königreichs. Zusätzlich sollte ein Council of Ireland aus den beiden Parlamenten in Dublin und Belfast ins Leben gerufen werden, der sich um gesamtirische Belange kümmern sollte.

Obwohl das Gesetz eine Mehrheit im britischen Unterhaus erhielt, wurde es nur für den nordirischen Teil umgesetzt. Es trat am 3. Mai 1921 in Kraft. Drei Wochen später wurden, basierend auf dem Gesetz, Wahlen in Nordirland abgehalten, und am 22. Juni eröffnete schließlich König George V. das Parlament in Belfast. Die südirischen Abgeordneten von Sinn Féin weigerten sich, ein südirisches Parlament zu formen, und tagten weiter im revolutionären Dáil Éireann.

Das vor 100 Jahren entstandene Nordirland umfasste im Großen und Ganzen bereits die Fläche der heutigen britischen Provinz Nordirland. Ein Jahr später wurde im Anglo-irischen Vertrag Südirland in die Unabhängigkeit entlassen und eine Grenzkommission ins Leben gerufen. Die südirischen Katholiken erhofften sich durch diese Landgewinne, vor allem von katholisch-dominierten Grafschaften. Das Ziel war es, den neuen britischen Staat Nordirland auf Belfast und sein Hinterland zu reduzieren. Das Kalkül ging nicht auf. Das heutige Nordirland ist von der Fläche nahezu identisch mit jenem Gebiet, das im Government of Ireland Act am 23. Dezember 1920 festgelegt wurde. Da Sinn Féin das Parlament im Süden boykottierte und stattdessen neuerlich im unabhängigen, revolutionären Dáil Éireann zusammentrat, war auch die vierte Home Rule Bill schlussendlich gescheitert. Entgegen dem Namen des Gesetzes kam es nicht zur "besseren Regierbarkeit Irlands" durch das britische Empire, sondern zur Teilung der Insel.

Die erstmalige Festschreibung der Teilung der Insel in einem Gesetz ist das Vermächtnis, das nicht nur den längsten Krieg des 20. Jahrhunderts in Europa auslöste, bei dem zwischen 1968 und 1998 über 3.500 Menschen das Leben verloren, sondern es ist auch die Erblast, die heute, 100 Jahre später, wie ein unlösbarer Klotz an den Brexit-Verhandlungen haftet.

Nordirland entstand nach 50 Jahren Home-Rule-Bewegung als direkte Reaktion auf einen blutigen, zwei Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieg. In den folgenden Jahrzehnten entstand daraus ein die irisch-katholische Minderheit sozial, politisch und kulturell diskriminierender protestantisch-unionistischer Staat, der von der unionistischen Partei dominiert wurde. Gegen diese Diskriminierung entstand in den 1960er Jahren eine Bürgerrechtsbewegung, deren gewaltsame Niederschlagung durch Polizei und britische Armee direkt in einen neuen Krieg mündete.

Keine bewachte Grenze

Der Nordirlandkonflikt dauerte 30 Jahre und endete formell 1998 mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens. Darin ist festgeschrieben, dass es keine bewachte Grenze durch Irland geben darf. Eine harte Grenze nach dem Brexit würde also den Vorgaben des Friedensvertrags widersprechen. Gegen einen Sonderstatus und eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland lehnen sich die nordirischen Unionisten auf.

Fast vier Jahre nach dem Brexit-Votum sehen daher viele die Gefahr, dass der Austritt nun alte Wunden aufreißen könnte. Wenn am 1. Jänner das Vereinigte Königreich nicht mehr EU-Mitglied ist, wird es keinen Krieg geben, aber es wird die Spaltung der nordirischen Bevölkerung noch weiter vertiefen. Keine relevanten Teile der Bevölkerung haben ein Interesse an einer Rückkehr zur Gewalt. Doch auch wenn es nicht wieder zum Krieg kommen wird, hat 22 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen und 100 Jahre nach der Gründung Nordirlands der Brexit einen endgültigen Frieden auf der Insel weiter erschwert.

Dieter Reinisch ist Historiker an der School of Political Science and
Sociology der National University of Ireland in Galway und lehrt an der
Webster Vienna Private University.