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100 Jahre PR - 320 Jahre "Wiener Zeitung"

Von Thomas Goiser

Gastkommentare
Porträt und Schreibtisch von Edward Bernays im "Museum of Public Relations" (www.prmuseum.org) in New York.
© Goiser

Gedanken zum Jubiläum und zum Abschied.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"This profession in a few years has developed from the status of circus agent stunts to what is obviously an important position in the conduct of the world’s affairs." Diesen Satz schrieb Edward Bernays im Vorwort zu seinem Pionierwerk "Crystallizing Public Opinion", das 1923 in New York erschienen ist. Der in Wien geborene Neffe Sigmund Freuds machte damit als "PR Counsel" und "Public Pleader" auch Public Relations (PR) für sich selbst und das noch neue Berufsfeld. Dieses bearbeitete in der industriellen Massengesellschaft vor allem Entscheidungen zur Auswahl von Produkten, das Wecken neuer Konsumbedürfnisse und natürlich auch ideologische und außenpolitische Auseinandersetzungen. Die "Wiener Zeitung" erschien damals, vor 100 Jahren, in der von Massenarbeitslosigkeit, gesellschaftlichen Radi-
kalisierungen und Hyperinflation traumatisierten Nachkriegsgesellschaft gerade in den aktuellen Grenzen entstandenen jungen Republik.

Heute sind Medien und Gesellschaft viel komplexer, vernetzter und rascher getaktet. Unser Menschenbild hat sich verändert, ethische Standards für die Kommunikation in und mit der Öffentlichkeit sowie interne und externe Kontrollinstanzen wurden entwickelt. Manche Ansätze der Kommunikationsarbeit von damals wären heute undenkbar. Mit kritischer Distanz ist Bernays’ Werk weiterhin lesenswert - es sollte unseren Blick für aktuelle Herausforderungen schärfen. Viele haben mit Sicherheit und Knappheit zu tun: Der Arbeitskräftemangel führt zur Konzentration auf Employer Branding, interne Kommunikation und Wissensmanagement. Lieferketten- und Versorgungsprobleme (auch bei öffentlichen Dienstleistungen) sowie ESG-Anforderungen lenken den Blick auf beschränkte und endliche natürliche Ressourcen. Es gilt, Aktivitäten zur Eindämmung und Bewältigung des Klimawandels und anderer ökologischer Fragen zu kommunizieren. All dies trifft auf stärker interessierte und in Echtzeit potenziell besser informierte Medien und Bevölkerung. Die "Öffentlichkeit" als Raum und Gegenstand politischer Debatten ist zunehmend fragmentiert. Das herkömmliche Mediensystem ist unter wirtschaftlichem Druck und in Transformation.

Auf globaler Ebene sind wir mit einer neuen politischen Systemrivalität konfrontiert. Für unsere westlich geprägten, offenen Gesellschaften ist die freie Meinungsäußerung der entscheidende Wettbewerbsvorteil auf der Suche nach besseren Lösungen. Auf diesem Weg tragen wir alle - täglich - Verantwortung für die Qualität des Diskurses. Aller Desinformation und allen Trollen zum Trotz. "Empowering Public Debates" statt des von Bernays propagierten "Engineering of Consent". Aus diesem öffentlichen Diskurs scheidet nun die gedruckte "Wiener Zeitung" aus. Sie wird in den "Public Debates" unserer (noch) offenen Gesellschaft als leise und kluge Stimme fehlen. Dabei sie hätte auch international als Visitenkarte der Republik noch viel Potenzial gehabt. Wenn man nur gewollt hätte. Wenn es also einen "Medienhimmel" gibt, dann warten dort vielleicht "Extrablatt", "Wochenpresse", "Süd-Ost-Tagespost", "Arbeiter-Zeitung" und "Wirtschaftsblatt" auf sie. Eine wenig tröstliche Vorstellung.

Statt "Rest in Peace" gilt: "Rest in Digital Archives" - unvergessen.

Im Internet Archive sind Scans der Ausgaben des 1923 erschienenen Buches "Crystallizing Public Opinion" (Ausgabe 1934) via https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.1607/ und von "Propaganda" via https://archive.org/details/in.ernet.dli.2015.275553 (Erstausgabe 1928, Fassung von 1936) abrufbar.