Zum Hauptinhalt springen

1000 Nächte weg von Zuhause

Von Suzy Sainovski

Gastkommentare
Suzy Sainovski ist Kommunikationschefin von World Vision.

Die Krise in Syrien ist menschengemacht. Deshalb ist die weltweite Hilfsbereitschaft geringer als bei einer Naturkatastrophe.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Was wäre, wenn morgen durch eine Naturkatastrophe Hunderttausende ums Leben kämen, Häuser und Schulen zerstört, Kinder von ihren Eltern getrennt würden und 14 Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen müssten? Die Welt würde aufhorchen und Notiz nehmen. Ja, die Welt würde sich kümmern. Wäre die Syrien-Krise eine Naturkatastrophe, gäbe es Schlagzeilen wie diese:

"Verheerende Katastrophe - mehr als 200.000 Tote, 14 Millionen müssen ihre Heimat verlassen."

Die Menschen würden diese Nachrichten lesen und tief in ihre Taschen greifen, um den Betroffenen zu helfen. Aber im Fall der Syrien-Krise ist das nie passiert - zumindest nicht in dem Ausmaß, in dem es nötig wäre. Und wir alle wissen, warum: Die Syrienkrise ist menschengemacht. Fakt ist: Leid, das durch Krieg verursacht wird, bewegt Menschen weniger zum Spenden als Leid durch Naturkatastrophen.

Dabei sollten wir uns Folgendes vor Augen halten: Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nun schon vier Jahre. Fast vier Millionen syrische Flüchtlinge haben das Land verlassen und sind weit weg von ihrem Zuhause. Weitere zehn Millionen sind innerhalb Syriens auf der Flucht. Sie alle befürchten, nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren zu können.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein syrisches Kind und mussten im August 2012 vor dem Krieg und der Gewalt fliehen. Sie haben bis heute mehr als 1000 Nächte in einem fremden Bett geschlafen, 1000 Nachmittage nicht mit Ihrem besten Freund spielen können, 1000 Tage nicht mit Ihrem geliebten Haustier verbracht - und Sie wissen noch immer nicht, ob Sie je wieder nach Hause können. 1000 Tage, an denen Sie Ihr Spielzeug vermissen, Ihre Nachbarn, Ihre liebste Fernsehsendung, die schönen Vögel im Baum vor Ihrem Haus und das Fahrrad, mit dem Sie immer durch die Nachbarschaft gefahren sind.

Und nun stellen Sie sich vor, Sie sind die Mutter oder der Vater dieses Kindes. Das bedeuet 1000 Nächte voller Sorge um das Wohl Ihres Kindes. 1000 lange Tage voller Unsicherheit, wie die Zukunft aussieht.

Ich bin erst seit einem guten Monat als Kommunikationsdirektorin für den Einsatz von World Vision in der Syrien-Krise verantwortlich. Die Herausforderung besteht darin, das verheerende menschliche Ausmaß der Krise wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Es ist nicht leicht, denn die Welt hat genug von diesem so lange anhaltenden Krieg, ohne ein Ende in Sicht. Wir alle hören immer und immer wieder dieselben Geschichten: Familien, die ihre Lieben verloren haben; Menschen, die aus Angst um ihr Leben fliehen mussten; Flüchtlinge, die in notdürftigen Unterkünften leben; Kinder, die Jahre an Ausbildung verlieren und arbeiten gehen müssen, damit ihre Familien überleben können. Aber ist denn das Leid eines Kindes weniger groß, weil es durch Krieg verursacht wurde und nicht durch eine Naturkatastrophe? Friert ein Kind deshalb weniger, ist es weniger hungrig oder hat weniger Angst? Vor kurzem habe ich etwas von einem 13-jährigen syrischen Buben namens Rheem gehört, das mich nicht mehr loslässt. Er hat zu mir gesagt: "Kannst du uns ins Fernsehen bringen? Kannst du es allen erzählen? Vielleicht hilft uns jemand." Wir versuchen es, Rheem. Wir versuchen es wirklich.