)
Regierung und Opposition sorgten mit ihren Kandidaten für Überraschungen. | Knappes Rennen möglich. | Berlin. Selten noch wurde eine Präsidentenwahl mit so viel Interesse verfolgt wie dieses Mal. Morgen, Mittwoch, um 12 Uhr wird der Präsident des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert, die 14. Bundesversammlung im Berliner Reichstagsgebäude eröffnen. Und geht es nach der Papierform, dann steht Christian Wulff bereits wenige Stunden später als neuer Bundespräsident fest. | Die Linke sieht in Gauck schlicht eine Provokation
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Denn die Parteien, die ihn nominiert haben, haben einen satten Vorsprung von 21 Stimmen über der absoluten Mehrheit.
Aber es geht diesmal nicht um die Papierform, weil bereits einige Delegierte der schwarz-gelben Koalition oder die Freien Wähler aus Bayern angekündigt haben, den von Rot-Grün aufgestellten Gegenkandidaten Joachim Gauck zu wählen. Es könnte also knapp werden. Aufgeladen wird die Spannung zusätzlich durch die Frage, ob das derzeit schwer angeschlagene Kabinett von Angela Merkel und Guido Westerwelle eine Niederlage bei der Präsidentschaftswahl politisch überlebt.
Überhaupt ist die morgige Wahl anders als alle bisherigen. Noch nie war ein deutscher Bundespräsident so abrupt zurückgetreten wie Horst Köhler. Weil für solche Fälle eine Neuwahl innerhalb von 30 Tagen vorgeschrieben ist, mussten im Rekordtempo die auf die einzelnen Länder entfallenden Mandate ermittelt und auf die Parteien aufgeteilt sowie 622 Wahlfrauen und -männer gefunden, gewählt und bestätigt werden. Vor allem aber waren, nach den Erfahrungen mit dem Quereinsteiger Köhler, geeignete Kandidaten zu küren.
Vier Bewerber
Die erste Überraschung bot die Regierungsmehrheit selbst. Für viele unerwartet, schickte sie den vergleichsweise jungen Christian Wulff ins Rennen, dem oft nachgesagt wurde, er wolle einst Angela Merkel beerben. Der 51-jährige Ministerpräsident von Niedersachsen ist Rechtsanwalt, katholisch und hat zwei Kinder. Seine zweite Frau Bettina wäre mit 37 Jahren im Falle seiner Wahl die jüngste First Lady, die die Bundesrepublik je hatte.
Es könnte aber auch sein, dass ein evangelischer Single, der 70-jährige Pastor Joachim Gauck, an der Staatsspitze stehen wird. SPD und Grüne landeten mit seiner Nominierung den größten Überraschungs-Coup. Gauck ist im Volk beliebter, gilt als unparteiisch und erwarb sich als erster Chef der Stasi-Unterlagenbehörde ein einzigartiges Saubermann-Image. Außerdem ist er der geschliffenere Rhetoriker.
Wenig Chancen, aber große Beachtung fallen der Seniorin unter den Kandidaten zu. Die 74-jährige Lukrezia "Luc" Jochimsen, den meisten als Fernsehjournalistin bekannt, wurde von der Linken aufgestellt. Die wenigsten wissen, dass es mit Frank Rennicke von der NPD noch einen vierten Kandidaten gibt. Der "Elektriker und Sänger" tritt bereits zum zweiten Mal an.
Bis zu drei Wahlgänge
Gesellschaftspolitisch und weltanschaulich stehen die beiden aussichtsreichsten Kandidaten einander sehr nahe. Beide sind Christen, beide konservativ und streng antisozialistisch. Und auch ihre programmatischen Erklärungen zur Ausübung des Präsidentenamtes unterscheiden sich praktisch nicht. Vertrauen, versöhnen, vereinen - so tönt es von beiden Seiten.
Ob Wulff oder Gauck der zehnte Präsident Deutschlands wird, könnte bereits um 14 Uhr feststehen; dann nämlich, wenn einer der beiden die absolute Mehrheit von 623 der 1244 Stimmen erreicht. Wenn nicht, dann könnte sich das Ergebnis um weitere anderthalb Stunden verzögern - so lange schätzen Experten die Dauer eines Wahlganges samt Auszählung. Erst in einem dritten Wahlgang reicht dann die relative Mehrheit: Dann ist gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereint. Sollte es soweit kommen, wird einiges vom Verhalten der Linken abhängen, die zwar der Regierung gerne schaden würde, bei der aber auch der Stasi-Bekämpfer Gauck ziemlich verhasst ist.
Für die Bundesversammlung wurde der Plenarsaal im Reichstag komplett umgebaut, denn am Mittwoch nehmen dort doppelt so viele Delegierte Platz wie üblich. Für jeden der 622 Bundestagsabgeordneten entsenden die Länder eine Wahlfrau oder einen Wahlmann, je nach Einwohnerstärke. So schickt Bremen als kleinstes Land fünf, Nordrhein-Westfalen hingegen 133 Delegierte nach Berlin. Damit umfasst die Bundesversammlung, deren einzige Aufgabe die Präsidentenwahl ist, 1244 Mitglieder, die alle einen Sitzplatz haben wollen. Rund ein Drittel sind Frauen, ein Drittel Persönlichkeiten aus dem Gesellschaftsleben, Wissenschaftler, Sportler, Schauspieler. Mit den etwa 1000 akkreditierten Journalisten werden sich morgen an die 3000 Menschen im Reichstag aufhalten.