Die Osterweiterung der EU um zehn Mitglieder sorgte 2004 für Furore. Heute sorgen Spannungen für Missstimmung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Brüssel/Wien. Der Jubel war groß, als die EU am 1. Mai 2004 um zehn neue Mitglieder erweitert wurde, in Westeuropa wie im Osten. Erst jetzt schien die Trennung durch den Eisernen Vorhang, die Europa jahrzehntelang lähmte, endgültig überwunden, die Zukunft strahlte verheißungsvoll in leuchtenden Farben.
Mittlerweile sieht die Sache etwas anders aus. Der Euphorie hat längst Ernüchterung Platz gemacht. Im ehemals kommunistischen Osten Europas greift die Rückbesinnung auf eigene nationale Stärke um sich - ein Trend, den es auch im Westen gibt, in so manchem osteuropäischen Land fällt er aber besonders drastisch aus. Demokratische Strukturen werden abgebaut, indem durch umstrittene Justizreformen rechtsstaatliche Prinzipien gefährdet werden, etwa in Polen. Geht es um die solidarische Aufteilung von Flüchtlingen, wehren sich die Ost- und Mitteleuropäer. Die Ungarn beispielsweise verweisen dabei offen auf ihre christliche Identität.
Gegen einen Schlüssel zur Verteilung von Asylwerbern sträuben sich zwar auch andere Staaten, und deswegen ist eine verpflichtende Flüchtlingsquote nicht in Sicht. Dennoch zeigte die Diskussion darüber Risse in Europa auf, die bereits gekittet schienen - nicht zuletzt eben durch die Aufnahme der zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten. So wie der Zwist um die Verschuldung Griechenlands oder Italiens die Auffassungsunterschiede zwischen Nord und Süd wieder offengelegt hat, so wurden wenige Jahre später in der Migrationsdebatte die Differenzen zwischen West und Ost sichtbar.
Verheißungsvoller Wohlstand
Andere Gräben hingegen konnten zumindest verkleinert werden. Nicht zuletzt ging es bei der EU-Erweiterung 2004 um die Verheißung steigenden Wohlstandes. In wenigen Jahren, hieß es, werde der Anschluss an die westeuropäischen EU-Länder erreicht sein.
Dieses Versprechen konnte zwar nicht gehalten werden, allerdings sind die letzten 15 Jahre ökonomisch durchaus ein Erfolg gewesen. Der Aufholprozess verlief stellenweise rasant, und so manches Land konnte das Potenzial der EU-Infrastrukturförderungen gut ausnutzen. Auch jetzt kann das Wirtschaftswachstum eines osteuropäischen Staates fast doppelt so hoch wie im Westen ausfallen. Aber: Der Reichtum ist relativ. Immer noch ist keiner der jüngeren Mitgliedstaaten wohlhabender als der EU-Durchschnitt.
Am nächsten kommt dem derzeit Malta mit 96 Prozent der EU-Wirtschaftskraft pro Einwohner. Den größten Sprung nach vorne machte wiederum Litauen, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf sich von 52 Prozent im Jahr 2004 auf 78 Prozent im Jahr 2017 erhöhte. Die Anstiege bei Österreichs Nachbarn Tschechien und Ungarn fielen etwas geringer aus: von 78 auf 89 Prozent beziehungsweise von 63 auf 68 Prozent des EU-Schnitts.
Bratislava teurer als Kittsee
Nach einzelnen Ländern und gar Regionen aufgeschlüsselt, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Beim BIP pro Kopf konnte Malta mittlerweile Italien einholen. So gut wie alle 2004 beigetretenen Staaten haben Griechenland in puncto Wohlstand hinter sich gelassen. Und die Grundstücke in und um Bratislava sind teurer als jene in der angrenzenden burgenländischen Region um Kittsee.
Die Entwicklung hängt auch damit zusammen, dass im Osten mittlerweile ein eklatanter Beschäftigtenmangel herrscht und sich Facharbeiter etwa in der Automobilbranche respektable Lohnzuwächse erkämpfen konnten. Diese bewegen sich etwa im Raum Bratislava im zweistelligen Bereich. In Tschechien stieg das Durchschnittsgehalt ebenfalls deutlich. Am meisten ist in Prag zu verdienen, wo die Einkommen in manchen Bereichen beinahe westliches Niveau erreicht haben. Die tschechische Hauptstadt hat übrigens EU-weit mit 1,3 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote.
Im öffentlichen Sektor sieht es freilich anders aus: Lehrer und Pfleger sind chronisch unterbezahlt. Eine Krankenschwester in Tschechien verdient mit allen Zulagen 650 Euro netto, noch weniger erhält ein Lehrer in Polen.
Umgekehrt gibt es Gegenden, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist. Und während in den boomenden Städten Polens wie Warschau oder Wroclaw in der Baubranche oder im Gastgewerbe der Arbeitskräftemangel mit Gastarbeitern aus der Ukraine zumindest gemildert wird, suchen Polen aus östlichen Regionen Jobs im Norden und Westen Europas.
Schreckgespenst Installateur
Die Vorstellungen von Millionen Osteuropäern, die die Arbeitsmärkte Westeuropas erobern wollen, weckten schon früh Befürchtungen in manchen Ländern. In Frankreich wurde "der polnische Installateur" zu einem Schreckgespenst hochstilisiert, das mit ein Auslöser für die Ablehnung der EU-Verfassung im Jahr 2005 war. Länder wie Österreich nutzten die erlaubten Übergangsfristen auf dem Arbeitsmarkt bis zuletzt aus, um den Zuzug von Jobsuchenden einzuschränken.
Als eines der wenigen Länder hatte Großbritannien 2004 auf solche Maßnahmen verzichtet. Laut Schätzungen nahmen dies rund eine Million Polen zum Anlass, sich Arbeit auf der Insel zu suchen. Das übertraf alle damaligen Prognosen. Und es führte dazu, dass das Königreich wenige Jahre später, beim EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens, dann sehr wohl Übergangsfristen beschloss.
Noch ein paar Jahre später war die Personenfreizügigkeit, einer der Grundpfeiler der Europäischen Union, in Großbritannien derart ungeliebt, dass sie als eines der Hauptargumente für Befürworter des EU-Austritts wurde. Wer einwandern darf, wollten die Briten selbst bestimmen.