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15 Milliarden Dollar für eine Zukunft

Von Peter Muzik

Wirtschaft

Die Staatsschulden werden gestrichen. | Industrie und Handel am Boden. | Im März muss die UNO Farbe bekennen. | Port-au-Prince. Der einstmals imposante, von drei Kuppeln gekrönte weiße Präsidentenpalast in der Hauptstadt Port-au-Prince ist großteils eingestürzt. In den Ruinen des 1918 nach dem Vorbild des Weißen Hauses errichteten Prunkgebäudes hausen noch immer tausende Obdachlose. Haitis Präsident René Preval, dessen privater Wohnsitz ebenfalls zerstört wurde, hat das nach dem schrecklichen Erdbeben vor dem Palast aufgestellte Containerbüro noch nicht bezogen - er zieht es vor, einstweilen in der in der Nähe des Flughafens gelegenen Polizeidirektion die Amtsgeschäfte zu führen.


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Die haitianische Regierung hat bereits die Zusage bekommen, dass der Nationalpalast in absehbarer Zeit rekonstruiert werden soll. Frankreich beabsichtigt, die Kosten zu übernehmen. Die spontane Hilfe der Franzosen wird allerdings ebenso wenig reichen wie das Engagement der weltweit tätigen karitativen Organisationen, die der Bevölkerung derzeit im Chaos beistehen.

Der Inselstaat in der Karibik wird die Katastrophe vom 12. Jänner nur dann halbwegs bewältigen können, wenn es zu einer bislang noch nie dagewesenen Solidaritätsaktion der internationalen Staatengemeinschaft kommt. Der Wiederaufbau des Inselstaats, in dem rund 250.000 Häuser zerstört sind und eine Million Menschen auf den Straßen leben müssen, wird laut Haitis Premierminister Jean-Max Bellerive rund zehn Jahre dauern und nach Schätzung von Weltbank-Experten bis zu 15 Milliarden Dollar kosten.

Auch wenn zwei Drittel Landes und zwei von drei Einwohnern vom Erdbeben nicht direkt betroffen waren, ist davon auszugehen, dass 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts schlagartig verloren gingen. Haiti, im westlichen Teil der Insel Hispaniola in den Großen Antillen gelegen, galt aber schon bisher als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wurde für 2009 auf 6,9 Milliarden Dollar geschätzt. Das BIP pro Kopf betrug um die 1300 Dollar, womit das Land im internationalem Ranking auf Position 203 rangiert.

Die Arbeitslosigkeit ist ein schier unlösbares Problem: In den letzten Jahren fanden bis zu 80 Prozent der 3,6 Millionen Einwohner keinen Job. Damit leben sie an der Armutsgrenze und müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag das Auslangen finden.

Die Lebenserwartung liegt bei 57 Jahren, die Kindersterblichkeit beträgt 15 Prozent, jeder Zweite ist unterernährt und Aids ein gewaltiges Problem. Eine unzureichend umgesetzte sechsjährige Grundschulpflicht macht aus 50 Prozent der Haitianer Analphabeten. Viele fristen mit Kinderarbeit, Prostitution und Drogenhandel ihr Leben.

Zwei von drei Einwohnern waren bisher von der Landwirtschaft abhängig. Exportprodukte sind Rohrzucker, Kaffee, Mango, Hirse und Holz. Alle anderen Nahrungsmittel müssen importiert werden und sind für die meisten Bürger unbezahlbar. Auch vor dem Beben konnte lediglich ein Drittel Bodens agrarisch genutzt werden, weil große Landesteile durch jahrzehntelange Abholzung und Brandrodung verloren gingen.

Die einstmals reiche französische Kolonie, die 1804 ihre Unabhängigkeit erkämpfte, dafür aber einen hohen Preis zu zahlen hatte, hat sich in eine Art Steinwüste verwandelt. Der Raubbau an der Natur fordert seinen Tribut: Bei starkem Regen kommt es rasch zu Flutkatastrophen, in Trockenzeiten zu großer Dürre und anschließenden Missernten. Etliche Naturkatastrophen, Hungerrevolten und Militärinterventionen haben die tragische Geschichte des Karibik-Staats ebenso geprägt wie Diktaturen, Korruption und Misswirtschaft.

Katastrophe zerstörtezarten Aufschwung

Haiti, das ab 1957 fast 30 Jahre lang von der skrupellosen Familie Duvalier brutal unterdrückt wurde, war seit jeher politisch instabil und wirtschaftlich unterentwickelt. In der heutigen Präsidialrepublik spielt die Industrie, die für kaum 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steht, eine untergeordnete Rolle. Die wenigen Fabriken in den Städten - privatisiert wurden bisher nur die unrentable Zement- und Mehlproduktion - mussten der Gewalt weichen und sich in den letzten Jahren auf benachbarten Inseln ansiedeln.

Fast so viel wie die Industriebetriebe tragen die Transferzahlungen der im Ausland lebenden Haitianer zum BIP bei - nämlich mehr als eine Milliarde Dollar. In den vergangenen zehn Jahren sind wegen der verheerenden wirtschaftlichen Lage mehr als drei Millionen Bürger ausgewandert.

Haitis Händler etwa leben hauptsächlich von Improvisation. In der Regel verkaufen sie in den Straßen, was gerade vorrätig ist - zweitklassige Nahrungsmittel oder gebrauchte Schuhe und Bekleidung. Auch der Dienstleistungssektor, Hotels, Restaurants oder spärliche Nightclubs, fristet mangels ausländischer Klientel seit jeher ein bescheidenes Dasein. Im Gegensatz zum Nachbarland, der Dominikanischen Republik, gibt es im Inselstaat kaum Tourismus.

Dennoch erlebte Haiti, ein beliebtes Transitland für den Kokainschmuggel, ab 2005 einen wenn auch spärlichen Wirtschaftsaufschwung. Neben der gewohnt hohen Inflation wurden plötzlich Wachstumsraten verzeichnet.

Im Spätsommer 2008 jedoch fegten vier tropische Wirbelstürme alle aufkeimenden Hoffnungen wieder hinweg: Sie richteten landesweit schwere Verwüstungen an, töteten mindestens 800 Menschen und fügten der Landwirtschaft schweren Schaden zu. Wegen der daraufhin stark steigenden Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis oder Mais kam es wieder einmal zu schweren Unruhen. Die Inflationsrate betrug in dem Jahr 15,5 Prozent - eine der höchsten Raten weltweit.

Bill Clinton sollInvestoren auftreiben

Das Außenhandelsdefizit machte im Vorjahr mehr als 1,4 Milliarden Dollar aus: Exporten in Höhe von 524 Millionen Dollar (zu 70 Prozent in die USA) standen Importe in der Größenordnung von rund zwei Milliarden Dollar gegenüber. Die Auslandsverschuldung soll Ende 2009 beinahe eine Milliarde Dollar betragen haben.

Nun ist die starke finanzielle Abhängigkeit Haitis vom Ausland nach dem Erdbeben, das mindestens 210.000 Todesopfer forderte, eine totale geworden. Die weltweiten Spendenaktionen lindern zwar die akute Not, doch die erforderlichen Finanzmittel für den Wiederaufbau sind noch nicht in Sicht.

Der Internationale Währungsfonds, der erst im Vorjahr auf mehr als eine Milliarde Dollar Schuldenrückzahlung verzichtet hat, stellte vorerst zwar einen Notkredit in Höhe von 114 Millionen Dollar bereit, damit dringend benötigte Importe finanziert und die Banken mit Geld versorgt werden können. Als die Außenminister von etwa 20 Staaten und Organisationen zwei Wochen nach der Katastrophe in Montreal zusammenkamen, gab es dann jede Menge Absichtserklärungen, aber letztlich keine konkreten Zusagen.

Anfang Februar haben zumindest die sieben führenden Industriestaaten bei einem G7-Treffen in Kanada beschlossen, dem Karibikstaat alle bilateralen Schulden zu erlassen. Auch Venezuela, einer der größten bilateralen Gläubiger, strich Verbindlichkeiten in Höhe von 295 Millionen Dollar.

Die EU-Kommission wiederum stellte vorerst 30 Millionen Euro für humanitäre Hilfe bereit. Die Mitgliedsstaaten sammelten weitere 92 Millionen Euro ein, wovon 2,8 Millionen von Österreichs Regierung kamen. Übrigens: Die Aktion "Nachbar in Not" brachte es auf 6,9 Millionen Euro.

Im März sollen in New York bei einer sogenannten Geberkonferenz der Vereinten Nationen die nächsten Beschlüsse gefasst werden. Der frühere US-Präsident Bill Clinton koordiniert auf Wunsch von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den internationalen Hilfseinsatz und soll den Neustart der zerstörten Insel vorantreiben, beispielsweise internationale Investoren motivieren, dem Land aus der Stunde null zu helfen.

Die Geschichte der einstigen Perle der Karibik

Haiti war ursprünglich dank Zuckerrohr und schwarzer Sklaven, die brutal ausgebeutet wurden, die reichste Kolonie Frankreichs und wurde sogar als "Perle der Karibik" bezeichnet. 1791 brach ein großer Aufstand aus, der 1804 in die Unabhängigkeit führte. Das Land musste sich durch Entschädigungen für ehemalige Plantagenbesitzer von der früheren Kolonialmacht freikaufen - wobei ein Schuldenberg entstand, der den Inselstaat beinahe ruiniert hat.

Die USA warteten aus Angst vor einer eigenen Sklavenrevolte bis 1861 mit der Anerkennung und verhängten eine Handelsblockade. Das zwanzigste Jahrhundert begann für Haiti mit einer fast 20-jährigen Besetzung durch die USA. 1957 kam der Diktator François Duvalier an die Macht, der bis zu seiner Ermordung regierte. 1971 folgte sein nicht minder grausamer Sohn "Baby Doc". Als dieser 1986 aus dem Land vertrieben wurde, gab es einen Militärputsch und Haiti kam weiterhin nicht zur Ruhe.

1990 wurde der populistische Priester Jean-Bertrand Aristide zum Präsidenten gewählt, der zwar bei den Armen sehr beliebt war, doch bereits ein Jahr später von der Armee abgesetzt wurde. Daraufhin verhängten die USA ein Totalembargo über das Land, das vor allem die Armen traf - die Reichen hatten ihr Vermögen rechtzeitig ins Ausland transferiert. Die USA sind mit 70 Prozent Hauptexportland des Inselstaats.

Nach einer militärischen Intervention der Amerikaner gelangte Aristide kurzfristig wieder an die Macht, musste 1996 dem heutigen Präsidenten René Préval Platz machen, schaffte aber 2000 erneut einen Wahltriumph.

Als er 2004 aufgrund massiver Widerstände wegen Korruption und Misswirtschaft aus dem Amt flog, war das Chaos perfekt. Der damalige US-Präsident Bill Clinton, nunmehr UNO-Sonderbeauftragter für Haiti, entschied, die wenig demokratiefreundliche haitianische Armee aufzulösen. Préval ist seit Februar 2006 wieder Präsident, Jean-Max Bellerive fungiert erst drei Monate als Premier.