Zum Hauptinhalt springen

170 Tage auf der verregneten Insel

Von Christine Zeiner

Wissen

Weg aus Wien, doch wohin, wann und was tun? Ein ganzes Sommersemester lang Fiesta in Spanien, Deutsch unterrichten in Indien oder - Nieselregen, Baked Beans und Teatime in Großbritannien? Scheinbar eine einfache Entscheidung. Aber: Die Unterrichtsstelle in Delhi war bereits vergeben und wie sollte ich Vorlesungen auf der Iberischen Halbinsel folgen, wenn mir dort wirklich alles "spanisch" vorkommen würde? Blieb die Bewerbung für einen Erasmus-Platz in London.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mitte September vor zwei Jahren. Heathrow Airport, auf dem Weg zur U-Bahn, die mich ins Zentrum von London bringen soll. Vollbepackt. Zwei mal umsteigen, ich bin verzweifelt: Die Gänge scheinen endlos, Rolltreppen gibt es keine. Zwei Britinnen packen mit an und helfen mir. Nach rund einer Stunde Fahrt bin ich da: Borough High Street. Es dämmert. Und es nieselt. Ich biege in die "Great Dover Street" und plage mich die Straße entlang zu meinem zu Hause für die kommenden sechs Monate - ein kleines Loch, sauteuer, wie fast alles London. Dafür sympathische Mitbewohner: Bruce aus Texas, Sanjay aus London, Jan aus Deutschland, Joyanne aus der Karibik, George aus Griechenland und Dan aus Schweden. Alle zwischen 25 und 30. Einzig Bruce hat schon ein paar Jährchen mehr am Buckel, seiner vergangenen Studienzeit nachgetrauert und deshalb kurzerhand seinen Wohnsitz in unsere WG nach London verlegt, um sich noch einmal wie Mitte 20 fühlen zu können.

Die ersten Tage in London waren geprägt von "Rennereien": WG-Vertrag absichern und unterzeichnen, Konto eröffnen, inskribieren, Studentenausweis organisieren, Seminare an der Uni koordinieren, Ermäßigungsausweis für die öffentlichen Verkehrsmittel anfordern, vorgeschriebene Impfungen durchführen lassen, Grundausstattung von Kochutensilien möglichst günstig erstehen, und dabei möglichst selten mit dem falschen Bus in die falsche Richtung fahren . . .

Um den hohen Kostenaufwand, der trotz des Stipendiums bestehen blieb, ein wenig auszugleichen, unterrichtete ich privat Deutsch. Das Unisystem ist im Vergleich zu Wien verschult, die Lehrveranstaltungen wie zu Hause mehr oder weniger interessant, die Betreuung dafür umso intensiver, was zumindest teilweise an den hohen Studiengebühren liegen dürfte. Doch die ersten Eindrücke trügten: Ich lernte London lieben, trotz Winter und mancher Schwierigkeiten. Und obwohl die Briten DJ Ötzi ("Otzi") auf Platz eins der Charts hievten und seine "Hits" folglich an jedem touristischen Platz dröhnten. Diese Orte haben jedoch den Vorteil, dass sie leicht als solche zu erkennen sind und demnach gemieden werden können. Man muss seine Zeit ja nicht in der Umgebung des Leicester Square verbringen, an dem sich Samstag für Samstag dutzende Stretch-Limousinen einfinden, denen aufgeputzte Teenager entsteigen. Absolut untypisch touristisch ist etwa der Stadtteil Brixton, in Reiseführern meist als "gefährliche Gegend, in der es von Dealern und Kriminellen nur so wimmelt" verschrien. Abgesehen von der Brixton Academy, ein ehemaliges Theater, in dem nun Konzerte stattfinden, gibt es in diesem Viertel auch einen authentischen multikulturellen Markt. Hier findet sich alles: Von Gewürzen über Gemüse bis zu Armbanduhren und Kameras. Apropos multikulturell: Im Gegensatz zu Wien, wo nur allzu oft Schwarze als Drogendealer abgestempelt werden, ist das in London nicht der Fall. Diskriminierung ist aber auch dort kein Fremdwort. Ein Land, eine Stadt abseits des üblichen Wochenendtrips oder 14-Tage-Urlaubs kennenlernen - auch oder vor allem das bedeutet ein Erasmus-Aufenthalt. Die Zeit in London hat mich aber auch fachlich weitergebracht. So durchstreifte ich passend zur Brecht-Vorlesung des öfteren die Straßen von Soho: Auf den Spuren der Dreigroschenoper.