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1918 - 1938 - 2018

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Gastkommentar des Bundespräsidenten a.D. zum Auftakt des heurigen Gedenk- und Erinnerungsjahres.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der anstehende 100. Geburtstag der Republik Österreich ist ein idealer Anlass, um sich mit der Geschichte und dem Wesen unseres Landes, mit der Befindlichkeit seiner Demokratie und mit seiner europäischen Verantwortung zu beschäftigen. Die Befassung mit der Geschichte eines Landes dient auch der Schärfung des Blickes auf zukünftige Entwicklungen, Chancen und Gefahren. Denn um die Zukunft eines Landes beurteilen und gestalten zu können, muss man jedenfalls auch die Vergangenheit und die Fehler der Vergangenheit in Betracht ziehen. Dies ist meine Grundthese.

Die große Ungewissheit vor 100 und vor 80 Jahren

Inzwischen sind wir am 19. Tag des Jubiläumsjahres 2018 angelangt, und ich stelle mir zunächst die Frage: Wo genau ist Österreich vor exakt 100 Jahren, im Jänner 1918, also im vierten Jahr des Ersten Weltkrieges - damals noch als Monarchie unter der Führung von Kaiser Karl und Ministerpräsident Ottokar Graf Czernin - gestanden? Wie sahen die Zukunftsperspektiven damals aus? Ich denke, dass man im Jänner 1918 noch wenig Ahnung hatte und haben konnte, wie Österreich und Europa auch nur ein Jahr später, also im Jänner 1919, aussehen würden. Die Geschichte verläuft eben nicht linear, sie hat immer wieder Bruchstellen, wo sich in wenigen Tagen oder Wochen mehr ändert als sonst in Jahren oder Jahrzehnten.

Und wie war es vor 80 Jahren, im Jänner 1938? Auch da konnte man nicht genau wissen, dass zwei Monate später Adolf Hitler ein Ultimatum an die österreichische Staatsführung stellen und damit Bundeskanzler Schuschnigg zum Rücktritt zwingen würde, was den Einmarsch deutscher Truppen beziehungsweise die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich zur Folge haben sollte, sodass am 15. März 1938 Hitler, der Führer und Reichskanzler des Deutschen Reiches, von einem Balkon am Heldenplatz aus vor mehr als 200.000 fanatisierten und nahezu hypnotisierten Menschen mit sich überschlagender Stimme verkünden konnte: "Ich kann somit in dieser Stunde dem deutschen Volke die größte Vollzugsmeldung meines Lebens abstatten: Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich! Sieg Heil!"

In einer anderen Rede versprach Hitler, der Stadt Wien, dieser Perle, eine neue Fassung zu geben, woran sich viele Wienerinnen und Wiener bitter erinnerten, als Wien sieben Jahre später rund um einen brennenden Stephansdom herum in Trümmern lag und sich die Schuttberge hoch auftürmten, aber auch zehntausende getötete deutsche und russische Soldaten sowie Zivilisten zu begraben waren. Hitler bedeutete Krieg, das hatten zwar viele schon Jahre vor seinem Einmarsch in Österreich gewusst, aber zu wenige hatten die Warnungen ernst genommen.

Dabei waren die Ereignisse vor 80 Jahren, also im März 1938, nicht ganz so abrupt über unser Land hereingebrochen wie der Kriegsausbruch 1914 oder der November 1918, weil das Aufkommen des Faschismus und die wachsende Rolle des Nationalsozialismus sowie die Abkehr vom Parlamentarismus und vom Humanismus eine jahrelange Vorgeschichte hatten.

Und wieder anders ist es, wenn wir auf die relativ geradlinige und stabile Entwicklung der vergangenen 50 oder 60 Jahre blicken, in denen vergleichbare, dramatische Entwicklungen - vielleicht mit Ausnahme des Zusammenbruches des Kommunismus in Europa - weitgehend ausgeblieben sind.

Der Widerstreit zweier menschlicher Grundtendenzen

Heute, im 100. Jahr nach der Gründung unserer Republik und im 80. Jahr nach dem "Anschluss" an Hitler-Deutschland, müssen wir uns fragen: Entwickelt sich die Demokratie in Europa derzeit auf einem soliden Unterbau oder gerät sie in unwegsames und unübersichtliches Gelände? Sind wir in der Lage, das Bekenntnis zu den Menschenrechten und zur Würde des Menschen zu festigen oder sind sie in der Defensive? Herrscht Rückenwind für das Bekenntnis zum Pluralismus und zur Dialogbereitschaft oder verstärkt sich das Denken in Schwarz/Weiß-Kategorien? Gewinnt der kritische Rationalismus oder der unkritische Populismus an Einfluss?

In der Natur des Menschen liegen offenbar zwei Grundtendenzen im Widerstreit miteinander, nämlich das Prinzip der Herrschaft des Stärkeren einerseits und das Prinzip der Gleichwertigkeit und der gleichen Menschenwürde aller Menschen, wie es in den meisten Verfassungen verankert ist, andererseits. Geschichtswissenschaft ist auch Politikwissenschaft, und Politikwissenschaft ist auch Geschichtswissenschaft.

Robert Michels hat in seinem vor fast 100 Jahren geschriebenen Buch zur Soziologie des Parteiwesens diese Tendenz zur Oligarchisierung und die Gegenbewegung dazu wie folgt beschrieben: "Die demokratischen Strömungen in der Geschichte gleichen mithin dem steten Schlag der Wellen. Immer brechen sie an der Brandung. Aber auch immer wieder werden sie erneuert. Das Schauspiel, das sie bieten, enthält zugleich Elemente der Ermutigung und der Verzweiflung." Meine Großmutter pflegte diesen Befund leichter verständlich zu formulieren: "Der liebe Gott muss immer ziehen, dem Teufel fällt’s von selber hin." Also das Sisyphos-Phänomen.

Die Demokratie ist gefestigt, aber nicht unzerstörbar

Tatsächlich ist die Demokratie - und zwar die faire, parlamentarische, sachliche, diskussionsbereite, Minderheitenanliegen berücksichtigende und nicht auf Schwarz und Weiß reduzierte Demokratie - ein kompliziertes und sensibles System, das ohne Unterlass einer Gegenströmung, nämlich Tendenzen zur Oligarchie, zur Machtakkumulation, zur Ungleichheit ausgesetzt ist und daher auf der Hut sein muss.

Ich betrachte die Demokratie in den meisten Staaten Europas dennoch als durchaus gefestigt, aber sie ist nicht unzerstörbar. Sie muss gewollt werden und geschützt werden. Österreichs verstorbener Vizekanzler und Außenminister Alois Mock hat oft gesagt: "Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten."

Dieses Thema steht auch in einem engen Zusammenhang mit unseren europäischen Idealen. Wie die Demokratie ist auch die europäische Zusammenarbeit gefestigt, aber nicht unzerstörbar. Auch sie muss gewollt werden. Sie darf sich nicht im Recht des Stärkeren erschöpfen. Sie darf ihren Sinn nicht auf die Durchsetzung eigener Interessen reduzieren.

So wie man - um nicht nur über Österreich zu sprechen - in Deutschland einen vernünftigen und solidarischen Interessenausgleich zwischen Bayern und Sachsen finden muss oder in Italien zwischen dem Norden und dem Süden, so muss man auch in Europa einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen den einzelnen Staaten und Regionen suchen und dabei jeweils das Gemeinsame in den Vordergrund stellen. Dieser Ausgleich wird aber nur gelingen, wenn die Solidarität stärker ist als der Egoismus.

Dabei gibt es zwischen dem europäischen Projekt und der Demokratie starke Zusammenhänge und Verbindungen. Wenn sich Europa gut entwickelt, nützt dies der Demokratie in Europa. Und wenn die Demokratie in den Mitgliedsländern der EU gut funktioniert, hat das europäische Projekt Aufwind.

Dies alles gilt es im Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 zu beachten und zu berücksichtigen. Ich freue mich, dass es in den nächsten Wochen und Monaten zwischen Neusiedlersee und Bodensee noch sehr viele Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge und Publikationen geben wird, die den historischen Gedenktagen im Jahr 2018 gewidmet sind. Wir müssen auch die europäische Bedeutung der Ereignisse vor 100 und vor 80 Jahren im Auge behalten.

Heinz Fischer wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident. Davor war er ab 1971 Abgeordneter der SPÖ zum Nationalrat (ab 1975 Klubobmann), von 1983 bis 1987 Wissenschaftsminister und von 1990 bis 2004 zunächst Erster und dann Zweiter Nationalratspräsident. Sein nächster Gastkommentar in der "Wiener Zeitung" erscheint am 16. Februar.