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1989, als es noch Staatsmänner gab

Von Engelbert Washietl

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Der Autor ist Vorsitzender der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor Wirtschaftsblatt, Presse, und Salzburger Nachrichten.

Vor 20 Jahren nahm Europas "Wendejahr" seinen Lauf. Das wäre ein Anlass, über Staatskunst intensiver nachzudenken als über mangelhaft ausgebildete Geheimdienstagenten.


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Der Fall der Berliner Mauer am 9. September 1989 hat lange und kurze Vorgeschichten. Eine kurze, aber äußerst wirksame begann am 2. Mai des gleichen Jahres, als ungarische Soldaten und Grenzwächter mit der Demontage des "Eisernen Vorhangs" an der Grenze zu Österreich begannen.

Von diesem Datum an lässt sich dank vieler inzwischen veröffentlichter Dokumente und auch Memoiren nachweisen, dass das "Wendejahr" nicht bloß Ergebnis von Entwicklungen, Sachzwängen und Rahmenbedingungen war. Es waren einzelne Politiker, die im Bewusstsein ihrer Verantwortung für Europa in den Lauf der Geschichte eingriffen und erfolgreich waren, obwohl sie risikoreiche Entscheidungen fällten.

Pessimistisch könnte man hinzufügen: Seit mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 der Schlussstein jener Entwicklung gesetzt worden ist, hat man weder in Europa noch in der USA oder in Russland ähnliche Beispiele exzellenter Staatskunst erlebt. Entweder fehlen heute geeignete Politikerfiguren oder die Zeit ist nicht für solche geschaffen. Vielleicht wächst mit US-Präsident Barack Obama ein Nachwuchs heran.

Nur wenige Politiker des Jahres 1989 hatten Mut und die nötige Reaktionsfreude, um dem Lauf der Dinge eine wünschenswerte Richtung zu geben. Sie waren dem Umsturz in Europa gewachsen. Zu ihnen zählten in erster Linie der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der sowjetische Reformparteichef Michail Gorbatschow und auch US-Präsident George Bush senior. Im Vergleich mit ihnen fielen etliche europäische Kleinkrämer, auch wenn sie Regierungschefs oder Staatsoberhäupter waren, fatal ab. Historisch gesehen bildeten sie die politische Makulatur einer großen Zeit.

Auch ein kleines Land kann Geschichte machen, wenn es - wie damals Ungarn - mit Miklós Németh den richtigen Regierungschef hat. Der Bauernsohn war erst kurz im Amt, und eine "kritische Wirtschaftslage" gab es auch damals schon, nicht nur in Ungarn. Die Staatskassa war leer. Németh fiel ein codierter Posten im Budgetvoranschlag auf. Es handelte sich um die jährlichen Kosten der elektrischen Signalanlagen an der österreichischen Grenze, umgerechnet eine Million Dollar nach damaliger Parität.

Németh strich den Betrag durch. Die Folge: Statt einer Reparatur des desolaten Grenzzauns um noch viel mehr Millionen wurde diskutiert, wozu der Zaun überhaupt nötig sei. Nemeth gab die Antwort darauf auch dem sowjetischen Parteichef Gorbatschow: Der Stacheldraht sei nur noch dazu da, DDR-Bürger an der Flucht in den Westen zu hindern.

Eine hervorragende Schilderung der ungarischen Sonderrolle als Transitland Tausender DDR-Flüchtlinge gibt der ehemalige NZZ-Korrespondent Andreas Oplatka im Buch "Der erste Riss in der Mauer" (Besprechung Seite 10). Die westliche Öffentlichkeit nahm zunächst wenig Notiz von den Schlosser- und Baggerarbeiten im Niemandsland bei Hegyeshalom und Sopron. Aber Németh hatte bereits den ersten Schritt getan, und weitere folgten im besten Einvernehmen mit Außenminister Gyula Horn. Beide stülpten die mit sowjetischen Panzern bewachte Hausordnung des "Sozialistischen Lagers" zwischen Mai und November 1989 um.

Seltsam, woran sich das Regime in Budapest, das noch immer ein kommunistisches war, argumentativ festklammerte, als es von den "Bruderstaaten" DDR, Tschechoslowakei und Rumänien attackiert wurde: an Menschenrechten, insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention.