Zum Hauptinhalt springen

2012: Das Jahr des unsanften Erwachens

Von Christian Ortner

Kommentare
Christian Ortner.

Nach mehr als drei Jahren Wirtschaftskrise merken die allermeisten Österreicher noch immer nichts davon. Das dürfte sich bald ändern.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Silvio Berlusconis jüngste, nonchalant dahingesagte Behauptung, in Italien gebe es gar keine Krise, weil "die Restaurants voll sind und die Menschen auf Urlaub fahren wie immer", kann man natürlich mit gutem Grund als Hinweis auf fortgeschrittene geistige Umnachtung verstehen. Angesichts einer drohenden Pleite der siebentgrößten Volkswirtschaft der Welt "keine Krise" sehen zu wollen, dazu braucht es schon ein kräftig entwickeltes Führerbunkersyndrom.

Krise? Welche Krise? Das fragen sich freilich auch sehr viele Österreicher, die seit mehr als drei Jahren in den Medien nichts als apokalyptische Berichte vom unmittelbar bevorstehenden wirtschaftlichen Kollaps lesen, der freilich nie zu kommen scheint. Regierungschefs, Notenbanker und Finanzminister berichten nach jedem Krisengipfel, dass ein ökonomisches Armageddon gerade noch einmal abgewendet werden konnte, ein möglicher "Zusammenbruch des Euro" wird im öffentlichen Diskurs mittlerweile mit einer Routine erörtert, als ginge es um das Wetter. Auf die allermeisten Menschen muss das mittlerweile wirken wie Berichterstattung von einem anderen Stern: Denn an ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage hat sich auch im mittlerweile vierten Krisenjahr merkwürdigerweise nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Löhne und Gehälter steigen, die Pensionen werden regelmäßig überwiesen, der Wohlstand ist unangetastet. Nie zuvor war die Kluft zwischen veröffentlichter Meinung und gefühlter Wirklichkeit des Durchschnittsösterreichers so groß wie jetzt.

Den wenigsten wird dabei bewusst sein, dass - nicht nur in Österreich - der Wohlstand in den zurückliegenden Krisenjahren nur durch eine enorme Zunahme der Verschuldung der öffentlichen Hände erkauft wurde. Der Staat hat die unvermeidbaren Krisenfolgen - wie Unternehmenszusammenbrüche, Arbeitslosigkeit und Wohlstandsverlust - einfach weggezahlt. Und zwar mit Geld, das er natürlich nicht hatte und zusätzlich zu vorhandenen Schuldenbergen ausborgen musste.

So etwas geht - wenn überhaupt - nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und der ist erreicht: Die nächste Krisenwelle nach dem gleichen Muster scheinbar unspürbar zu machen, wird nicht mehr möglich sein. Die Folgen werden wohl schon nächstes Jahr zu besichtigen sein. Österreich droht (wie ganz Europa) eine Rezession, gegen die mangels pekuniärer Masse kaum noch Konjunkturpakete und andere Therapeutika aus dem keynesianischen Notfallkoffer verfügbar sein werden. Es ist anzunehmen, dass die Krise erstmals die (scheinbare) Virtualität verlässt und im wirklichen Leben der meisten Menschen ankommt. Mit dem unsanften Erwachen aus der Illusion, die Krise existiere nur in den Köpfen katastrophengeiler Wirtschaftsredakteure.

Österreichs politische Klasse hatte bisher im Großen und Ganzen nicht den Mut, den Wählern den Ernst der Lage auch nur einigermaßen realistisch zu erläutern. Sie nahm sich so selbst die Chance, unangenehme - aber notwendige - wirtschaftspolitische Maßnahmen gut begründen und damit vielleicht sogar mehrheitsfähig machen zu können.

ortner@wienerzeitung.at