Ein Lokalaugenschein zum EU-Türkei-Deal.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Lesbos. Noch ist die Sonne über Lesbos nicht aufgegangen, als die ersten Busse auf das hermetisch abgeriegelte Hafengelände fahren. Nach und nach steigen 136 illegal eingereiste Migranten aus. Es sind junge Männer, dunkle Hautfarbe, kaum Gepäck. 124 sind aus Pakistan, vier aus Sri Lanka, drei aus Bangladesch, zwei Inder, ein Iraker und zwei Syrer. Alle haben eines gemeinsam: Sie haben keinen Asylantrag gestellt. Alle werden abgeschoben.
Ob Spezialeinheiten der griechischen Polizei mit Schlagstock und Schutzschild, Soldaten der griechischen Streitkräfte in ihren grünen Uniformen, eine Vielzahl von Hafenpolizisten oder die Mitarbeiter der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex mit ihren auffällig hellblauen Westen: Die Sicherheitsbeamten sind in großer Überzahl. Die 136 Einwanderer leisten keinen Widerstand.
Ruhig trotten sie auf die beiden Schiffe zu, die vor Anker liegen. Etwa die Hälfte betritt die Fähre "Lesvos", die andere Hälfte die andere Fähre "Nazli Jale". Jeder Migrant wird von einem Frontex-Beamten begleitet, hinzu kommen noch zwölf Aufpasser. Macht zusammen knapp 150 Sicherheitsbeamte.
Um Schlag 7.11 Uhr Ortszeit legt die "Lesvos" ab. Doch nach einigen Metern hält sie an. Nanu? Sie legt wieder an. Ganz langsam. Was ist passiert? Ein junger Mann mit Rucksack rennt auf dem Kai mit einer Tüte in der Hand zum Schiff, er übergibt einem Sicherheitsbeamten auf der "Lesvos" eine Tüte. Sie muss offensichtlich noch mit. Der Beamte schaut kurz hinein. Dann hebt er den Kopf. Alles okay! Die "Lesvos" fährt wieder los. Jetzt endgültig. Es ist genau 7.15 Uhr.
Um 7.26 Uhr ist dann die "Nazli Jale" so weit. Alle sind an Bord. Auch sie legt ab. Auch sie fährt nun nach Dikili, in die 18.000 Einwohner zählende Küstenstadt im Westen der Türkei, genau gegenüber von Lesbos. Um 9.20 Uhr kommt sie dort an. Das war’s.
Der D-Day in der Flüchtlingskrise, die Europa seit Monaten in seinen Grundfesten erschüttert, beginnt an diesem warmen Montagmorgen Anfang April auf Lesbos. Und er begann früher als ursprünglich bekanntgeben. Der Grund: die Angst vor Protesten gegen die ersten Abschiebungen gemäß dem jüngsten EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen.
Die Rechnung geht auf. Die griechischen Behörden haben die potenziellen Protestler überrascht. Denn sie wollten sich erst um 8 Uhr hier am Hafen treffen, war doch die erste Fahrt in die Türkei mit den Migranten um
10 Uhr vorgesehen.
So stehen nur wenige Sympathisanten der Migranten, die meisten sind Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, hinter der Absperrung. Sie sind hilflos, sie können nichts ausrichten. Nur ihre Parolen sind zu hören. "Turkey ist not a safe country", skandieren sie. Vergeblich.
Asylanträge inletzter Minute
Die Polizeiaktion hatte schon tief in der Nacht begonnen. Um 3 Uhr in der Nacht werden alle 136 illegalen Einwanderer im Hotspot Lesbos im Ort Moria, vier Kilometer nördlich vom Hauptort Mytilini, geweckt. Sie müssen sich peniblen Leibeskontrollen unterziehen. Dann werden sie mit einem halben Dutzend Bussen in den Hafen gebracht. Dort werden sie erneut kontrolliert.
Ursprünglich sollten die beiden türkischen Passagierschiffe "Lesvos" und "Nazli Jale" der türkischen Schifffahrtsgesellschaft
TurYol vom gestrigen Montag bis morgen Mittwoch insgesamt 750 Migranten vom Hafen in Lesbos’ Hauptort Mytilini in die türkische Küstenstadt Dikili bringen.
Konkret sollte die "Nazli Jale" zwei Mal pro Tag jeweils einhundert Migranten transportieren. Dies wären an den drei Tagen von Montag bis Mittwoch kumuliert sechshundert Migranten. Die "Lesvos" sollte zudem einmal pro Tag weitere fünfzig Migranten nach Dikili befördern. Dies wären bis Mittwoch weitere 150 Personen. Doch daraus wird nichts. Die anderen, für gestern bis morgen geplanten Rückführungen in die Türkei sind erst einmal abgeblasen. Unklar ist, wann sie weitergehen.
Der Grund: Abgeschoben sollen zwar (erst einmal) nur die "neuen" illegalen Einwanderer. Dies sind jene, die seit dem 20. März von der Türkei kommend über die Seegrenze die griechischen Inseln - und damit die EU - erreicht haben. Aber davon nur jene, die keinen Asylantrag gestellt haben. So sieht es der EU-Türkei-Deal vor.
Nur: Bis Montagfrüh hatten fast alle der bis dahin offiziell 3357 Insassen des Hotspots auf Lesbos, die meisten buchstäblich in letzter Minute, einen Asylantrag gestellt. So haben sie ihre umgehende Abschiebung in die Türkei verhindert. Zumindest vorerst. So zählte die Athener Regierung bis Montagfrüh 6156 Flüchtlinge und Migranten auf den Inseln Lesbos (3357), Chios (768), Samos (746), Leros (93), Kos (60), Rhodos (88) sowie Megisti (29).
Auch in Chios, der Nachbarinsel von Lesbos, begannen zwar am Montag um 8 Uhr in der Früh die ersten Abschiebungen - und die Prozedur verlief genauso ab wie die in Lesbos, insgesamt 66 Migranten brachte eine Fähre von Chios nach Dikili.
Doch auch auf Chios haben fast alle anderen Insassen des dortigen Hotspots unterdessen einen Asylantrag gestellt. Sie dürfen noch wie die anderen Neuankömmlinge hoffen. Auf ein besseres Leben in Europa. Oder auf ein paar Tage länger in Griechenland - bis zu ihrer Abschiebung. Gleichzeitig sind die ersten syrischen Kriegsflüchtlinge aus der Türkei über das "Resettlement"-Programm in der EU angesiedelt worden, nämlich 32 in Deutschland und 11 in Finnland.
Der Flüchtlingsstrom nach Hellas reißt jedoch nicht ab: Gerade als die beiden Schiffe aus Lesbos mit den 136 abgeschobenen Migranten die Fahrt nach Dikili aufnehmen, fährt in umgekehrter Richtung ein Schiff der griechischen Küstenwache in die Hafen von Lesbos ein. Es hat 57 Neuankömmlinge an Bord. Die Griechen haben die Flüchtlinge und Migranten aus der Türkei kommend in griechischen Gewässern aufgelesen. Die Zahl der Neuankömmlinge auf allen griechischen Inseln von Sonntag bis Montag in der Früh: 514 Menschen.