New York - In einer geheimen Anlage im Norden Pakistans machen Nuklearexperten derzeit vermutlich Überstunden. Vor dem Hintergrund der Eskalation des Kaschmir-Konflikts produzieren sie nach Einschätzung von Experten rund um die Uhr waffenfähiges Uran. Der Nachbarstaat Indien holt möglicherweise bereits seine Atomsprengköpfe aus den Lagern. Die nukleare Brisanz des Konflikts zwischen den beiden verfeindeten Staaten löst weltweit Besorgnis aus.
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Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 haben Indien und Pakistan bereits drei Kriege geführt, zwei davon um die umstrittene Region Kaschmir. Mit einer Serie von Bombentests zeigten beide Staaten 1998, dass sie Atommächte sind. Seitdem hat Indien erklärt, auf einen atomaren Erstschlag verzichten zu wollen. Pakistan, dessen Armee nur halb so groß wie die des Nachbarlandes ist, hat einem solchen Schritt bisher keine Absage erteilt. "Das ist die Trumpfkarte Pakistans", sagt Miriam Rajkumar, indische Expertin an der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden in Washington.
Es wird vermutet, dass Indien bisher etwa 50 bis 100 Plutonium-Sprengköpfe hergestellt hat. Pakistan soll über 30 bis 50 Sprengköpfe verfügen. Jeder dieser Sprengköpfe habe wahrscheinlich etwa die Stärke der Atombombe, die die USA 1945 über Hiroschima abwarfen, also rund 15.000 Tonnen TNT, erklärt Albright, Physiker am Institut für Wissenschaft und internationale Sicherheit in Washington. Indien werde vermutlich seine Kampfflugzeuge vom Typ MiG mit den Bomben bestücken, Pakistan werde eher auf seine Raketen vertrauen.
Der indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee könnte die pakistanische Führung derart zur Weißglut treiben, dass sie mit der Androhung eines Atomschlags reagieren könnte, sagt der US-Politologe David Albright. Die Pakistaner wüssten, dass sie Indien bei den konventionellen Streitkräften und Waffen völlig unterlegen seien.
Der pakistanische Physiker Zia Mian von der Princeton-Universität im US-Staat New Jersey sagt, am ehesten könnte sich Pakistan zu einem atomaren Angriff genötigt sehen, wenn es sein nationales Überleben gefährdet sehe.
Auch der Politologe Sumit Ganguly von der Universität von Texas sieht das ähnlich. "Wenn die Inder tief nach Pakistan vorstießen und keine Anstalten machten, den Vorstoß zu beenden, dann könnten die Pakistaner mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen." Doch spreche die "indische Militärkultur" eigentlich eher für Vorsicht und Zurückhaltung, und Indien wäre vermutlich "nicht so dumm", nukleare Vergeltung zu provozieren.
Ein Atomkrieg könnte für 30 Millionen Inder und Pakistaner den Tod bedeuten, schätzte der Natural Ressources Defense Council mit Sitz in Washington im Jänner anhand eines Computermodells. In dem Szenario trafen ein Dutzend Sprengköpfe große Städte in jedem der beiden Staaten. Langfristige Folgen wie Todesfälle durch Verstrahlung wurden dabei nicht berücksichtigt.
Einige indische Beobachter glauben, dass vor einer solchen Entwicklung im letzten Moment eine Großmacht - die USA - einschreiten und die Kontrolle über die pakistanischen Waffen übernehmen würde. AP