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30. Todestag Kelsen: Recht ohne Pathos

Von Matthias G. Bernold

Wirtschaft

Morgen ist er 30 Jahre tot. Hans Kelsen, Begründer der "Reinen Rechtslehre" und Mitgestalter der Österreichischen Bundesverfassung starb am 19. April 1973 in Berkeley, Kalifornien. Was würde der große Rechtsgelehrte wohl von unserer derzeitigen Verfassungsentwicklung halten? Die "Wiener Zeitung" hat am Wiener Hans-Kelsen-Institut vorbeigeschaut, wo der emeritierte Universitätsprofessor Robert Walter das Andenken Kelsens und dessen Ideen hochhält.


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Wenn der Geist des großen Rechtsgelehrten irgendwo umherweht, dann hier in diesen drei Zimmern in der Gymnasiumstraße in Wien-Döbling. Bis unter die Decke stapeln sich Kelsens Druckwerke, die sich - übersetzt in eine Vielzahl von Sprachen - mit Rechtstheorie, philosophischen Grundsatzfragen bis hin zur Rechtsordnung der Vereinten Nationen auseinandersetzen. Kelsen selbst blickt, mal ernst, mal lächelnd, von zahlreichen Bildern an den Wänden herunter.

Ein unbestimmter Rechtsbegriff: Gott

Auch Robert Walter, der die Gründung des Kelsen-Instituts im Jahr 1971 initiierte, um - wie er sagt - "einen Kristallisationspunkt der Reinen Rechtslehre" zu haben, lächelt freundlich, wenn er Kelsens Denken erklärt: Eine "von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte" Rechtstheorie zu entwickeln, sei das Ziel des Meisters gewesen. "Vorstellungen wie Gerechtigkeit", erklärt Walter, "taugen nicht, das Recht besser zu verstehen. Denn Gerechtigkeit bedeutet für jeden etwas anderes." Ähnlich sei es mit Gott: Aus Sicht der Jurisprudenz ein unbestimmter Rechtsbegriff. "Warum eine so erhabene Sache auf die banale Ebene des Rechts hinunter ziehen?", fragt sich Walter. "Ich sehe die Gefahr, dass unter Berufung auf Gott nur verschiedene politische Ziele verfolgt werden."

Möglichst präzise Regelungen, kein Pathos, keine Zielbestimmungen: Darauf habe Kelsen hingearbeitet, in diesem Sinn habe er auch das B-VG von 1920 geprägt. Mit seinen Ideen beeinflusste er Rechtsordnungen in südamerikanischen Ländern ebenso wie etwa in Japan. Eine Folge der - nicht unumstrittenen - formellen Auffassung vom Recht ist, dass es hierzulande, anders als etwa in Deutschland, keine strikt fassbaren inhaltlichen Schranken für die Erlassung von Verfassungsgesetzen gibt. Was vom Nationalrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit als Verfassungsgesetz beschlossen und ordnungsgemäß kundgemacht wird, hat Verfassungsrang. Und bekanntlich machte der Gesetzgeber weidlich Gebrauch von der Möglichkeit, alles Erdenkliche in die Verfassung zu hieven.

Normenflut: "Kelsen ist nicht schuld daran"

Professor Walter sieht die Schuld für die Normenflut allerdings nicht bei Kelsen: Vielmehr sei das Wechselspiel Verfassungsgerichtshof (VfGH)- Gesetzgeber dafür verantwortlich: Während der VfGH seine Rechtsprechungsbefugnis seit den 1980er-Jahren ausgeweitet habe statt am Wortlaut des Gesetzes festzuhalten, hätte sich die Politik in übertriebenem Maß mit Verfassungsgesetzen beholfen - auch um die lästigen Richter auszuschalten.

Die präzise Verfassung aus 1920 sei zunehmend verschlechtert, viele Kleinigkeiten geändert, zu viele unbestimmte Rechtsbegriffe implementiert worden. Dass ein Verfassungskonvent Abhilfe schaffen und zugleich den Bundesstaat neu ordnen kann, hält Walter für unwahrscheinlich. Ohne Entwurf würde diskutiert, bei Ausgangspositionen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: "Während die einen die Landtage abschaffen wollen, sind die anderen für deren Aufwertung. Während die einen den Bund stärken wollen, sind die anderen dafür, den Ländern mehr Kompetenzen zu geben. Wie soll da ein Kompromiss herauskommen?", fragt Walter, um sogleich anzufügen, dass dies keine Frage ist, die von der Rechtswissenschaft beantwortet werden kann.

Kelsens Geist freilich dürfte sich für derartige Fragen ohnehin nicht mehr interessieren. Freuen darf er sich allemal, dass seine Ideen auch 30 Jahre nach seinem Tod nicht vergessen sind. Auch ein Verdienst des Kelsen-Instituts, wo bereits eifrig an einem weiteren Werk über den Wissenschaftler gearbeitet wird, das noch im Sommer erscheinen soll.

Biografie

Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. 1883 zog die Familie nach Wien, wo der Vater, Adolf K., eine kleine Lampen-Fabrik gründete. K. promovierte 1906 an der Uni Wien zum Doctor iuris. Nach einem Studienaufenthalt in Heidelberg bei Georg Jellinek (1908) habilitierte er sich 1911 für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät in Wien. 1912 heiratete K. Margarete Bondi. Der Ehe entstammen zwei Töchter. 1914 bis 1918 zum Kriegsdienst eingezogen, wirkte K. zuletzt als Rechtsberater des Kriegsministers. 1917 wurde K. Extraordinarius, 1919 Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht in Wien. Im selben Jahr wirkte er an der Ausarbeitung des B-VG 1920 mit. Von 1921 bis 1930 war er nebenamtlich als Richter am VfGH tätig, nach politischen Anfeindungen verließ er Wien und wurde 1930 Professor in Köln. Zwischen 1933 und 1938 lehrte er in Genf und in Prag Völkerrecht. 1940 emigrierte er in die USA, wo er an der University of California unterrichtete. Elf Ehrendoktorate von Universitäten auf der ganzen Welt würdigten seine Verdienste. Kelsen starb am 19. April 1973 in Berkeley, Kalifornien.

Literatur: Walter, Jabloner, Zeleny (Hrsg.): 30 Jahre Hans Kelsen-Institut; Manz 2003; 118 Seiten; ISBN 3-214-07670-1

Information: Hans Kelsen-Institut, Gymnasiumstr. 79, 1190 Wien, Tel. 01/ 369-55-34, http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen

Walter, Jabloner, Zeleny (Hrsg.): 30 Jahre Hans Kelsen-Institut; Manz 2003