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In der Wasagasse endet für viele Flüchtlinge ihre Odyssee. Es ist der finale Akt ihrer Asylverfahren.
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Wien. Er genießt einen Sonderstatus unter den Dokumenten. Es gibt nur wenige Papiere, die mit derartiger Bedeutung für ihre Inhaber aufgeladen sind, wie ein Pass. Er ist die bürokratische Legitimation für die eigene Existenz. Er bringt Licht ins Dunkle des diffusen Konstrukts Identität. Und er bestimmt, wo man hingehört. Er teilt die Welt in die Glücklichen und die weniger Glücklichen. In jene, die reisen können, wohin sie möchten, ohne Visa, ohne Backgroundchecks, ohne die Hilfe eines entfernten Verwandten, der dafür bürgen muss, dass sie sich nicht dort ansiedeln, wo andere meinen, dass sie nicht hingehören würden. Und in jene, deren Pass vor keinem Schalter dieser Welt etwas wert zu sein scheint.
In der Wasagasse 20 bedeutet der Pass vor allem eines: das Ende einer Odyssee. Hier im Alsergrund befindet sich das Passcenter des Bundesamts für Asyl und Fremdenwesen. Für Flüchtlinge aus aller Welt ist hier die letzte Station einer langen Reise und der Beginn eines neuen Lebens. Denn hier beantragen sie das Dokument, das ihre Ankunft in Österreich besiegelt. 36 Seiten gebundene Sicherheit. Sie haben Traiskirchen längst hinter sich. Das Warten. Die Interviews. Das Abspulen der eigenen Lebensgeschichte. Sie haben es geschafft. Sie dürfen bleiben.
Wie ein Vogel, dem man die Flügel gebrochen hat, so hat sich Schazia gefühlt, als sie keinen Pass hatte. Das war vor sechs Jahren, als die gebürtige Afghanin nach Österreich geflohen ist. "Als ich meinen Pass bekam, war es so, als wären meine Flügel wieder heil", erzählt die vierfache Mutter. Sie steht vor dem Gebäude des Passcenters. Sie will ihren Pass und die ihrer zwei Söhne und zwei Töchter verlängern lassen. Es ist sechs Uhr morgens. 20 Männer und Frauen warten mit ihr stumm am Eingang. Sie stammen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Tschetschenien und Somalia. Einige sind bereits seit 5 Uhr morgens hier. In gebrochenem Deutsch und Englisch haben sie sich organisiert, eine provisorische Liste erstellt, sodass keiner beim Warten seinen Platz verliert und von seinem Hintermann übertölpelt wird. Denn sie wissen: Die Plätze sind begehrt. Nur 60 Anträge werden pro Tag von den 14 Beamten hier entgegengenommen.
2014 wurden in Österreich 24.466 Pässe ausgestellt, davon knapp ein Drittel in Wien. Sie heißen Konventions- und Fremdenpässe. Es sind Dokumente mit grauer und dunkelroter Verkleidung. Die grauen Konventionspässe sind für alle jene Männer und Frauen, die einen positiven Asylbescheid erhalten haben. Die dunkelroten Fremdenpässe für subsidiär Schutzberechtigte, also Personen, deren Asylantrag zwar abgewiesen wurde, aber deren Leben oder Gesundheit in ihrem Herkunftsland bedroht sind und sie deswegen vorläufig in Österreich bleiben dürfen. Derzeit handelt es sich in Wien bei 80 Prozent der Anträge um Konventionspässe, der Großteil der Antragsteller stammt aus Syrien. Bei den Fremdpässen sind es vorrangig Afghanen und Tschetschenen.
Früher haben sie ihre Pässe am Hernalser Gürtel beantragt. Dort wurden bis März dieses Jahres neben der Abwicklung des regulären Asylverfahrens auch die Anträge für die Pässe entgegengenommen. Zwei Beamte kümmerten sich um 30 Anträge pro Tag. Das wussten die Antragsteller und standen bereits in der Nacht am Gürtel Schlange. Chaotische Zustände herrschten dort. Gelegentlich kam es auch zu Raufereien.
Wo sie nicht angebrüllt werden wie schwerhörige Kinder
Nun läuft das Prozedere geordneter ab. Die Menschenmenge ist überschaubar. Um 7.30 Uhr öffnen die Türen in der Wasagasse. Im Foyer werden die Wartenummern verteilt. Binnen 30 Minuten gibt es nichts mehr zu verteilen. "Keiner hat sich an unsere Liste gehalten. Ich war auf Platz 6 und jetzt bin ich Nummer 20", murmelt ein syrischer Mann, bevor er in den ersten Stock des Gebäudes stapft. Gereizt nimmt er dort im Wartezimmer Platz und starrt auf den digitalen Aufrufmonitor an der Wand. In der Hand den Antrag für den Pass. Hat er alles dabei? Hat er alles richtig ausgefüllt? Kann er damit dann endlich seine Familie besuchen, die in die Türkei geflohen ist?
Arpad Esztl weiß von der Anspannung. Deswegen kommt er auch immer in das Wartzimmer, bevor er seinen Dienst beginnt. "Mehraboon", murmeln einige Männer, wenn der 56-Jährige an ihnen vorbeigeht. Es bedeutet auf Dari gütig, warmherzig, liebenswert. Sie lächeln. Sie kennen ihn, wissen, dass sich der Mann mit den weißen nackenlangen Haaren und der Schamanenkette ihrer annimmt. Dass er versucht, mit ihnen mit ein paar Brocken Dari und Arabisch mit ihnen gemeinsam die letzten Lücken der Anträge auszufüllen. Dass er langsam mit ihnen spricht. Dass er sie nicht anbrüllt wie schwerhörige Kleinkinder in der Hoffnung, dass sie das Gesagte so besser verstehen. Dass er sich ihrem Tempo anpasst. Und wenn er an seine Grenzen stößt, den Dolmetscher zur Rate zieht, der den Beamten seit Dezember zur Seite gestellt wurde.
Ein bisschen erinnert Esztl dabei an Kevin Costner in seiner Rolle des Lieutenant John Dunbar im Film "Der mit dem Wolf tanzt", wenn er sich vorsichtig seinen Klienten nähert. "Das sind arme Teufel", sagt er, "die leben erst seit ein paar Monaten hier und sollen schon auf Deutsch ein Formular ausfüllen?" Esztl lacht. Dann navigiert er die irakische Familie in sein Büro. Er bemüht sich, dass er die Namen richtig ausspricht. Er kapituliert nicht beim dritten arabischen Mittelnamen, sondern hält durch bis zum Schluss, damit der Betroffene auch weiß, dass er gemeint ist und nicht der Bruder, Sohn, Neffe oder Enkel. Geduldig lotst Esztl sie durch das gesamte Prozedere: Antrag ausfüllen, Daten überprüfen, passgerechte Bilder abgeben, bezahlen und dann noch zu den Fingerabdrücken. "In fünf bis zehn Tagen wird Ihnen dann der Pass zugestellt. Sie sind fertig."
Kein Menschgeht freiwillig
Seit knapp 30 Jahren ist der gelernte Großhandelskaufmann Beamter. Zuerst im Zentralmeldeamt, dann im Verkehrsamt und seit 15 Jahren im Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen. Dass er hier landen würde, hat Arpad Esztl nicht kommen sehen. Mittlerweile ist er ganz froh darüber. "Ich habe ein Privileg, wofür die anderen draußen zahlen müssen", sagt er, "ich kann hier Sprachen lernen. Ich kriege das gratis geliefert. Wenn ich etwas auf Dari nicht weiß, dann frag ich einen hier und der sagt mir das." Eingelesen hat er sich mittlerweile in die einzelnen Regionen, ihre Geschichte und ihre Konflikte. Sich durch jeden Wikipedia-Artikel zum Thema Islam geklickt. Den Koran in deutscher Version hat er längst zu Hause liegen, damit er "mitdiskutieren kann", wenn einer wieder behauptet, Mohammed hat das oder jenes gesagt.
Vielleicht hat sein Interesse auch mit der eigenen Geschichte zu tun. Seine Eltern stammen aus Ungarn und sind selbst in den 50er Jahren nach Österreich geflohen. "Da hat man einen ganz anderen Bezug zu den Geschichten, das ist klar", sagt er.
Was denkt er, wenn er die Bilder aus Traiskirchen sieht? "Das, was ich mir denke, will keiner hören", sagt Esztl leise. "Die Lösung liegt nicht in Traiskirchen. Die Lösung liegt da drüben." In den Ländern, aus denen die Betroffenen kommen: "Kein Mensch geht freiwillig, wo er die Sprache und die Sitten kennt, wo er weiß, das ist meine Familie und da bin ich gut aufgehoben. Ich gehe nur dann weg, wenn einer sagt: entweder - oder."