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43 noch immer vermisste Studenten

Von Konstanze Walther

Politik

Weshalb Iguala symptomatisch für Mexiko ist.


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Mexiko gilt schon seit langem als "Narco"-Staat: ein Land, in dem die "Narcos" das Sagen haben - Gangster, die in den Drogenhandel verwickelt sind.

Doch selbst die abgebrühtesten Beobachter können es kaum fassen, was in der Nacht des 26. Septembers 2014 geschehen ist. Nach und nach kamen schier unglaubliche Informationen ans Licht: Korrupte Polizisten hätten auf Anweisung des Rathauses 43 Studenten, die aus einem bekannt linken aktivistischen Umfeld kamen und auf dem Weg zu einer Protestaktion waren, gekidnappt. Dann wären sie einer mexikanischen Drogenmafia übergeben worden, die sie ermordet und verbrannt hätten. Der Bürgermeister und seine Frau ergriffen im Zuge der Ermittlungen die Flucht, wurden aber gefasst. Der US-stämmige Rechtsprofessor John Ackerman, der seit Jahren in Mexiko lebt und lehrt, erklärt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", warum der Fall der 43 entführten Studenten symptomatisch für die gesamte US-mexikanische Drogenpolitik ist.

"Wiener Zeitung": Warum beherrschen die 43 Studenten noch immer die Proteste in Mexiko? Der Bürgermeister, seine Frau und ein paar Narcos wurden festgenommen, die die Morde an den Studenten gestanden haben. Die Schuldigen scheinen doch gefasst zu sein?John Ackerman:Da sind wir uns nicht so sicher. Und dass es zu diesem Verbrechen kommen konnte, hängt mit der Drogenpolitik zusammen, nämlich dass Mexiko ein Befehlsempfänger der USA ist, anstatt die eigenen Bürger zu schützen.

Was haben die USA damit zu tun?

Mexiko ist Stellvertreter in dem von Washington ausgerufenen Krieg gegen Drogen. Die USA wollen, dass Gewalt und Tod südlich der Grenze bleiben. Aber von den Drogenverkäufen in den USA fließen zwischen 9 bis 29 Milliarden US-Dollar wieder über die Grenze nach Mexiko zurück. Mit diesem Geld werden unter anderem Politiker glücklich gemacht, die zumindest nicht nachfragen. Bei den vergangenen Wahlen hat der Gewinner und jetzige Präsident, Enrique Peña Nieto, statt der erlaubten 25 Millionen US-Dollar für Werbekosten mindestens das Zehnfache davon ausgegeben. Da muss man sich natürlich fragen, wo diese Art von Geld herkommt.

Also werden einerseits auf Wunsch der USA die Drogenkartelle bekämpft, aber militärisch, nicht ihre Finanzierungsquellen. Anderseits kassieren die Politiker Geld - wenn nicht von den Narcos selbst, so doch über irgendwelche Geldwäsche-Operationen. Das bringt uns zum Status quo: Auf der einen Seite sind die USA, auf der anderen die Narcos, und mittendrin die mexikanischen Institutionen, die gar nicht die Möglichkeit haben, eine eigenständige Drogenpolitik zu entwickeln, die das Ziel hätte, das eigene Volk zu schützen und dem Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat zurückzugeben.

Wie hat sich das auf den Fall der 43 ausgewirkt?

Nahe der Stadt Iguala, wo das alles passiert ist, sind zwei Militärregimenter stationiert. Und die waren definitiv im Bilde über das, was in der Nacht des 26. Septembers abgelaufen ist. Die öffentliche Sicherheit im Bundesstaat Guerrero wurde vom Staat kontrolliert. Es ist nicht einmal technisch gesehen eine lokale Frage, auch wenn es sich um den Bürgermeister und um die lokale Polizei gehandelt haben sollte. Einige Journalisten, die die Ermittlungsakte einsehen konnten, berichten auch, dass die Bundespolizei und das Militär die ganze Zeit Bescheid gewusst hatten - und entweder passiv zugesehen oder aktiv mitgeholfen haben.

Sie glauben, dass die Bundespolizei und das Militär in der Nacht der Entführung und des Massenmordes davon gewusst haben?

Ja. Schließlich hat es schon vorher jede Woche Kidnappings und Massenmorde gegeben. Bei den Grabungen, um die Studenten zu finden, hat man ja alle Längen ein Massengrab mit Unbekannten gefunden. Die offizielle Geschichte ist unglaublich bis unglaubwürdig. 43 Menschen auf den Hügeln nahe der Stadt verbrannt, ein richtiges Holocaust-Szenario, und keiner hat was gemerkt? Am nächsten Tag ist der Bürgermeister nicht aus der Stadt gelaufen. Nein, er ist gemütlich ein paar Tage geblieben, bis er gemerkt hat, dass die Menschen dem Fall Beachtung schenken. Dann haben ihn seine Freunde angerufen, um ihm zu raten, sich aus dem Staub zu machen. Aber zuerst wurde er beschützt und gedeckt. Erst als die nationale und internationale Aufmerksamkeit begonnen hat, wurde er geopfert. Deswegen ist es so wichtig, dass man in Europa weiter Druck macht. Europa hat hier, anders als die USA, wenigstens einen unabhängigen Blick.

Ist der oft geäußerte Wunsch, die Drogenkriminalität einzudämmen, ein reines Lippenbekenntnis der Politik? In letzter Zeit, gerade nach Iguala, wurden doch einige Drogenbosse festgenommen?

Mexiko muss immer wieder mal Köpfe liefern und sich so den USA gegenüber rechtfertigen, denn schließlich bekommen die Politiker von den USA finanzielle Hilfe im Drogenkrieg. Aber die Gewalt löst sich nicht dadurch auf, dass man eine Person inhaftiert. Im Gegenteil, wenn man eine Gruppe enthauptet, wachsen mehrere kleine Gruppen nach.

Würde die Legalisierung von Drogen wirklich das Problem lösen? Schließlich leben die Kartelle auch von Waffen- und Menschenhandel.Natürlich gibt es keine einfache Lösung. Aber die Liberalisierung ist ein Teil der Lösung. In Mexiko selbst ist es schon legal, kleine Mengen an Drogen bei sich zu haben. Nun muss diese Liberalisierung ausgedehnt werden. Es sollte vor allem legal sein, Drogen in die USA zu transportieren. In einem Dutzend US-Staaten ist Marihuana ohnedies bereits legal. Also wieso müssen sich Mexikaner untereinander wegen illegaler Transportwege massakrieren, um eine Droge in die USA zu schaffen, die dort legal transportiert und konsumiert wird? Das erscheint mir irrational.

Theoretisch wird dort das "legale" Marihuana lokal angebaut.

Das mag sein. Aber es ist ja wohl klar, dass eine ganze Menge mexikanischen Marihuanas seinen Weg nach Colorado findet, wo es legal konsumiert wird. Innerhalb der USA wird der Transport von Cannabis de facto gerichtlich nicht verfolgt. Man kann sich eben nicht um alles kümmern. Und der Transport bekümmert die US-Amerikaner nicht. Es sollte Mexiko auch nicht bekümmern. Generell: Wenn man Drogen legalisiert, würde das sehr wichtige Kapazitäten freimachen, um wirklich wichtige Straftaten, wie Mord und Kidnapping zu verfolgen. Aber wenn Mexiko Drogen legalisiert, würde das Land zum Pariah-Staat erklärt werden, zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit. Aber genau das sollte Mexiko tun: sich mehr auf jene Verbrechen konzentrieren, die Mexikaner betreffen, Mord und Kidnapping, anstatt den Polizisten für die USA zu spielen.

Das kleine südamerikanische Land Uruguay hat Marihuana legalisiert, und die USA haben es verkraftet.

Ich glaube, es wäre anders, wenn Uruguay, wie im Fall Mexikos, eine 2000 Meilen lange Grenze mit den USA teilen würde.

15.000 Soldaten patrouillieren auf mexikanischen Straßen, um gegen Gewalt und Drogen vorzugehen . . .

Inzwischen wurde dieser militarisierte Zugang zu einem Wettlauf des Aufrüstens. Die Soldaten haben bessere Waffen, kurz darauf haben die Narcos noch bessere Waffen. Das alles bereitet den Boden für mehr Gewalt. In Wahrheit sollte man aber zum Beispiel etwas gegen Geldwäsche unternehmen. Dafür wird aber gar kein Geld ausgegeben. Ich kann mich an keinen wichtigen Geldwäsche-Fall in den vergangenen zehn Jahren erinnern. Es ist nun einmal schwer zu sehen, wo schmutziges Geld endet und sauberes beginnt. Für solche Untersuchungen braucht man Ressourcen.

Zurück zu den 43 verschwundenen Studenten: Gibt es für deren Angehörigen Hoffnung?

Fix ist nur, dass man noch immer nicht weiß, was passiert ist. Der Tathergang, den die Staatsanwaltschaft beschrieben hat, ist komplett unglaubwürdig. Wissenschafter und Menschenrechtsaktivisten haben inzwischen genug Beweise zusammengekratzt, um zu zeigen, dass - wenn, so wie behauptet wird, 43 Menschen zur gleichen Zeit verbrannt wären - die Tatorte ganz anders aussehen würden. Die DNS-Untersuchung der verkohlten Leichenteile hat bei nur einer einzigen Fingerkuppe feststellen können, dass sie zu einem der verschwundenen Studenten gehört. Das bedeutet ja nun gar nichts, diese Fingerkuppe kann von Gott weiß wo sein und auf verschiedene Arten ihren Weg zu den Überresten gefunden haben. Und nachdem die DNS-Ergebnisse so wackelig waren, hat sich, vier Monate nach dem Kidnapping, ein Narco zu Wort gemeldet, der bereits seit drei Jahren im Gefängnis sitzt. Dieser Gangster, "El Grande", hat der Polizei und dem Gericht erklärt, ja, seinen Informationen zufolge sei alles genau so zugegangen, wie die Staatsanwaltschaft es bisher gesagt hatte: Die lokale Polizei hätte die Studenten der lokalen Mafia überantwortet, die haben die Jugendlichen ermordet und verbrannt. Diese Aussage ist übrigens das wichtigste Beweismittel in dem Prozess. Man muss hier aber erwähnen, dass Mexiko eine lange und dokumentierte Tradition der Folter hat, vor allem in publikumsträchtigen Gerichtsverfahren, um Geständnisse herauszupressen.

Es ist offensichtlich, dass das offiziell Gesagte nicht alles gewesen sein kann. Es ist wahrscheinlich, dass die Jugendlichen tot sind - ich glaube nicht, dass sie in einer Höhle festgehalten werden, obwohl das natürlich möglich wäre. Jedenfalls ist jeder Wissenschafter bisher zu dem Schluss gekommen, dass das, was die Staatsanwaltschaft behauptet, nicht glaubwürdig ist. Es macht es nicht besser, dass die wiederum so apodiktisch daran festhalten. Der Staatsanwalt nannte seine Version sogar "eine historische Wahrheit". Das ist absurd. Jetzt untersuchen Experten der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte den Fall. In sechs Monaten sollten wir ein Ergebnis haben, dem wir eher vertrauen können.

Zur Person

Am 26. September des vorherigen Jahres sind in Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero drei Menschen ermordet und 43 Studenten verschleppt worden.

Ein paar festgenommene Narcos haben gestanden, die Studenten in den Hügeln um Iguala herum, einer 100.000-Einwohner-Stadt, verbrannt und verscharrt zu haben. Es wurden in den Hügeln zwar menschliche Überreste gefunden, aber die forensischen Untersuchungen - unter anderem in Österreich - kamen zu keinem schlüssigen Ergebnis. Der Staatsanwalt konstatierte aber, dass der Fall geklärt sei und sprach von einer "historischen Wahrheit".

John Ackerman ist Professor für Rechtswissenschaften an der mexikanischen Universität UNAM. Der ehemalige Berater der Weltbank ist regelmäßiger Kolumnist in den Zeitungen "La Jornada" und "Proceso".
John Ackerman war in Wien, um durch internationale Aufmerksamkeit den Druck auf Mexiko zu erhöhen, die Ermittlungen nicht schleifen zu lassen.