Ein geniales Kurzwort steht für die größere Bereitschaft unserer Nachbarn, mit Unschärfe und Ambivalenzen zu leben.
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Kürzlich hat mir ein sprachlich versierter Österreicher erläutert, welche Funktion das Wörtchen "Eh" in seiner Muttersprache hat. Er saß am Tisch in meiner Residenz, und "erläutert" ist vielleicht das falsche Wort. Es war eher eine kleine Schauspieleinlage. Denn so kurz das "Eh" als Wort ist, so sehr hängt seine Bedeutung vom Zusammenhang ab - und dazu gehören auch Mimik, Gestik, Tempo, Tonfall und Melodie.
Natürlich kannte und benutzte ich das Wörtchen auch in Deutschland, aber eher im einfachsten Sinne, als Füllsel wie "sowieso" und "ohnehin". In Österreich habe ich nach vorläufiger Analyse folgende weitere Bedeutungen registriert: Ja, nein, vielleicht, natürlich, wirklich, wirklich nicht, unbedingt, bedingt, keinesfalls, notfalls, kommt darauf an, selbstverständlich, ausgeschlossen, egal, nebensächlich, zentral. Die Schattierungen scheinen unendlich.
Für Diplomaten ist das natürlich ein tolles Wort. Man muss sich nicht festlegen, die Bedeutung bleibt oft vage und lässt Raum für Interpretationen. Die Spuren, die man in einem Satz gelegt hat, sind bereits verflogen, bevor der nächste gesagt wurde. Wäre österreichisches Deutsch statt Französisch die Lingua Franca der Diplomatie geworden, hätten sich manche Weltkrisen der Geschichte womöglich entspannen lassen, bevor es zum Krieg kam.
Kein neugelerntes österreichisches Wort hat sich in meinem Wortschatz derartig breitgemacht. Es ist praktisch, leicht zu merken und nahezu gefahrlos zu verwenden. Anscheinend ziemt es sich hierzulande nicht nachzufragen, wenn man den Sinn des jeweiligen "Eh" nicht ganz verstanden hat. Das wäre vielleicht peinlich, lieber lebt man mit der Möglichkeit des Missverständnisses.
Was einen wichtigen Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern ausmacht. Hierzulande scheint man Ambivalenzen und Unschärfe besser aushalten zu können. Und für den etwaigen Preis von Missverständnissen winkt gelegentlich der Lohn höherer Erkenntnis.
Bekanntlich hat der Physik-Nobelpreisträger Erwin Schrödinger das Gedankenexperiment von der Katze entwickelt, die mit einer zerbrechlichen Blausäureampulle in einen Kasten gesperrt ist. Der merkwürdig "unbestimmte" Zustand der Katze zwischen Leben und Tod beschäftigt seit Generationen Schülerinnen und Schüler. Dass Schrödinger ein solches Genie in der Quantenphysik entwickelte, überrascht mich nicht mehr, seitdem ich hier lebe. Er war halt Österreicher. Und die Katze? Eh.